Der Wegweisungsartikel zeugt von einem autoritären und unliberalen StaatsverständnisLesedauer ca. 3 Minuten

Der Wegweisungsartikel zeugt von einem autoritären und unliberalen Staatsverständnis

Tribüne im Tages-Anzeiger vom 7.9.2005

Zuerst ein Blick zurück. Wo liegt der Ursprung der Wegweisungsartikel? Angesichts der offenen Drogenszene in Zürich plädierte 1994 eine breite Mehrheit von Bürgerlichen bis hin zu einzelnen Exponenten der SP für die Einführung der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht. Darin waren Rayonverbote für Asyl Suchende vorgesehen. Sie bieten bis heute die Möglichkeit, diesen Personen ohne konkreten Deliktvorwurf das Betreten eines Gebietes zu verbieten und sie daraus wegzuweisen.

Gebracht haben diese Rayonverbote nichts. Der Drogenhandel ging weiter wie zuvor, der Kleinhandel auf der Strasse wurde einfach in andere Hände verlagert. Erfolgreich war dagegen eine Politik, die auf unideologische Entspannung setzte und Schwerstsüchtige mit der Heroinabgabe den Klauen von Mafia und Beschaffungskriminalität entriss.

1998 dehnte der Kanton Bern als erster das Rayonverbot auf Schweizerinnen und Schweizer aus. Urheber des Wegweisungsartikels war der damalige Stadtberner Polizeidirektor Kurt Wasserfallen, der das neue Instrument gleich auch in der Bundesstadt anwenden liess. Es sollte Ansammlungen von Obdachlosen, Alkoholikern, Drogensüchtigen und Punks verhindern. Erfolgreich war es nicht.

Bern wurde weder sicherer noch sauberer: Das Resultat war ein sinnloser und teurer Polizei- und Verwaltungsleerlauf. Er gipfelt darin, dass wiederholt wegen Missachtung der Wegweisung gebüsste mittellose Personen ihre Bussen im Gefängnis absitzen. Für einen Gefängnistag, der die Steuerzahlenden mehrere Hundert Franken kostet, wird ihnen 30 Franken der Busse erlassen.

Nun soll im neuen Polizeigesetz auch der Kanton Zürich einen Wegweisungsartikel erhalten, der noch willkürlicher als das Berner Vorbild ist. Schon Einzelpersonen, die «Anstoss erregen», sollen polizeilich weggewiesen werden können. Ein blosser Nachahmungsreflex: Wo ist jenes gravierende Problem in der Grössenordnung, wie es damals am Letten und in den Stadtzürcher Kreisen 4 und 5 existierte? Es gibt schlicht keines. Auf Vorrat neue Willkürgesetze zu schaffen, widerspricht diametral jeder liberalen Staatsauffassung.

In Zürich existieren mit gezielten Aufwertungsstrategien – ich denke etwa an die Bäckeranlage – und mit den Patrouillen der SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) bereits funktionierende Mittel zur erfolgreichen Schlichtung von Nutzungskonflikten im öffentlichen Raum und zur Förderung eines guten Zusammenlebens. Erfolgreich sind diese Ansätze, weil sie Probleme nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip herumschieben, sondern pragmatisch die Situation entspannen.

Bloss für die politische Profilierung

Will die Polizei wirklich unmögliche Aufgaben erhalten, an denen sie scheitern muss, weil andere Massnahmen viel sinnvoller sind? Ich bin überzeugt: Der Wegweisungsartikel dient nicht der polizeilichen Arbeit, sondern bloss der politischen Profilierung von Polizeivorstehern.

Das hohe Recht auf Bewegungsfreiheit darf nicht auf dem Altar billigen Populismus geopfert werden. Der Entwurf des Polizeigesetzes will uns weismachen, die Polizei sei die geeignete Institution, um alles, was «begründet Anstoss oder Furcht bewirkt» durch Wegweisung aus den Augen und dem Sinn zu schaffen. Aber niemand kann sagen, wo diese Kompetenz wirklich beginnt – und vor allem, wo sie aufhört.

Polizei soll Kernaufgaben erfüllen

Das neue Polizeigesetz droht damit zu einem sinnlosen und willkürlichen Beschäftigungsprogramm für die Polizei zu verkommen. Ich hoffe darauf, dass im Kantonsrat auch bürgerliche Vertreter für das einstehen, was sie in andern Bereichen des Staats immer fordern: Auch die Polizei soll sich konsequent auf ihre Kernaufgaben beschränken, nämlich die Strafverfolgung und die Abwehr drohender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

>> der ganze Artikel im Tages-Anzeiger vom 7.9.2005