Es gibt ein Medikament für höhere LebensqualitätLesedauer ca. 2 Minuten

(Votum im Nationalrat, 27.9.2012 für die 1:12 Initiative) Stellen Sie sich vor es gäbe ein Heilmittel, das effektiv dazu beiträgt, dass weniger Menschen psychisch erkranken, weniger an Fettleibigkeit leiden, weniger Drogen konsumieren und weniger zu kriminellem Verhalten neigen. Dieses Medikament steigert zudem die schulische Leistung, und es erhöht die Chancen auf soziale Mobilität, kurz gesagt: Stellen Sie sich vor es gebe ein Medikament für höhere Lebensqualität.

Ja, das tönt wie ein Wundermittel, eine eierlegende Wollmilchsau. Meine Damen und Herren: Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, ein solches Mittel existiert. Allerdings ist es keine chemische Formel, sondern eine gesellschaftliche.

Die britischen Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett haben in einer wissenschaftlichen Studie das eindrückliche Ergebnis aus unzähligen Statistiken auf den Punkt gebracht: Ungleichheit ist ein gesundheitliches und gesellschaftliches Problem! Ihr Fragestellung war: Warum haben vergleichbar reiche Gesellschaften völlig unterschiedliche Lebensqualität? Die Antwort: nur in armen Ländern führt eine Erhöhung des Bruttosozialprodukts zu mehr Lebensqualität. In reichen Länder ist es ein anderer Faktor, der sich positiv auf die Gesellschaft und die Lebensqualität innerhalb dieser Gesellschaft auswirkt: ökonomische Gleichheit.

Dieses Resultat ist so verblüffend wie eindeutig: in den OECD-Ländern ist nicht das absolute Durchschnittseinkommen entscheidend für die Lebensqualität, sondern die Einkommensschere – je kleiner sie ist, desto besser. Damit zeigt sich nicht nur das Selbstverständliche – dass von einer faireren Einkommensverteilung die unteren Einkommen profitieren – sondern, dass auch die Topverdiener einen klaren Nutzen davon haben. Auf deutsch: auch die Reichsten sind in einer faireren Gesellschaft glücklicher und gesünder. Gleichheit und Fairness ist der Leim, der das soziale Gefüge zusammenhält und dem gesamtgesellschaftlichen Wohlergehen dient.

Viel haben wir bisher gehört über die Abzocker, über die Topsaläre zuoberst auf der Lohnskala. Allerdings ist die Schweiz auch sonst keine Insel der Seligen mehr.
Die Krankheit einer immer stärker auseinander klaffenden Lohnschere ist auch bei uns bereits ausgebrochen. Sprechen wir nicht immer nur von den Banken und der Pharme, sprechen wir von der Entwicklung der Lohnschere bei «normalen Firmen» wie Implenia, Kuoni, Lonza, Baloise oder Georg Fischer. Auch dort hat sich die Lohnschere im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt bis verdreifacht.

Wir haben eine Krankheit – und wir haben ein Mittel dagegen! Würden Sie nun nicht auch wollen, dass dieses Mittel gefördert wird? Die Initative 1:12 gibt uns die Gelegenheit, einen neuen Weg anstelle der Umverteilung zu wählen: Den Weg des Respektes vor allen arbeitenden Menschen, den Weg des Respekts vor ihrem Einsatz, den Weg, die Ungleichheit, die für uns alle schädlich ist, nicht nachträglich zu lindern, sondern erst gar nicht entstehen zu lassen.

Zum Schluss noch dies: Einige haben der Initiative handwerkliche Fehler vorgeworfen, Umgehungsprobleme als Grund für die Ablehnung erwähnt. Diesen Scheinheiligen sage ich: Trocknen Sie Ihre Krokodilstränen. Sie hätten es ja selber in der Hand gehabt, in der Kommission einen Gegenvorschlag zur Debatte zu stellen.