Falsche Sehnsucht nach Big BrotherLesedauer ca. 4 Minuten

Die Genfer Videoüberwachungspläne machten im Sommerloch Schlagzeilen. Meine Kritik der Big Brother Visionen von Pierre Maudet im Politblog.
Bild: By fibercool (george_orwell_bcn) [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons

Im Sommerloch schafften es die bereits Wochen alten Pläne des umtriebigen Genfer Sicherheitsdirektors Pierre Maudet auf die Titelseite der «SonntagsZeitung». Genf will ein Quartier flächendeckend überwachen. Mit hochauflösenden Videokameras und Gesichtserkennungssoftware. Das Ziel ist es laut Maudet nicht bloss, die Aufdeckung von Verbrechen zu vereinfachen, sondern der Polizei die Mittel in die Hand zu geben, um eine Straftat zu verhindern – bevor sie geschehen ist.

Das klingt natürlich schön. Eine Gesellschaft ohne Verbrechen, wer wollte das nicht? Ich habe als liberaler Mensch Maudets Pläne dennoch kritisiert. Aus zwei Gründen. Erstens halte ich eine flächendeckende Überwachung sämtlicher Bürgerinnen und Bürger für falsch. Und zweitens bin ich der festen Überzeugung, dass es in einem freiheitlichen Rechtsstaat klar die Aufgabe von Polizei und Justiz ist, Verbrechen zu ahnden, nicht aber, sie zu verhindern.

By fibercool (george_orwell_bcn) CC-BY-SA-2.0 via Wikimedia Commons
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Zum ersten Punkt, zur Kritik an der Überwachung. Da verweise ich auf George Orwell. Sein Romantitel «1984» wird dieser Tage ja oft zitiert, wenn über die Massenschnüffeleien amerikanischer, britischer und anderer Geheimdienste berichtet wird und über den mutigen Mann, der sie entlarvt hat, Edward Snowden. Big Brother, der fiktive Diktator des Überwachungsstaats Ozeanien, verfolgt in «1984» das Leben der Bürger. Täglich und in allen Details.

Allerdings haben die meisten, die Orwell zitieren, sein Buch nicht gelesen. Denn der Big Brother im Roman überwacht nicht die ganze Bevölkerung, sondern nur jene 15 Prozent, die für die Partei arbeiten. Wichtiger noch ist ein weiterer Unterschied: Big Brother betreibt keine heimliche Überwachung wie die Geheimdienste. Seine Präsenz ist überall sichtbar. Wer «1984» liest, begegnet bereits im zweiten Abschnitt dem Slogan BIG BROTHER IS WATCHING YOU. Er steht in grossen Lettern auf Plakaten, unter dem beschnauzten Gesicht des Diktators, dessen Blick so gedruckt ist, dass man beim Vorbeigehen das Gefühl hat, er folge einem auf Schritt und Tritt.

Die Folgen sind klar. Jeder fragt sich, wie er sich verhalten soll. Was angemessen ist. Unauffällig. Angepasst. Was keinen Verdacht weckt. Die Überwachten werden so zu Überwachern ihrer selbst. Orwells Big Brother ist also weniger zu vergleichen mit dem verheimlichten Prism- und Tempora-Programm, mit dem die USA unsere ganzen Onlineaktivitäten ausspionieren, sondern viel eher mit den Plänen von Maudet, ein ganzes Quartier in aller Öffentlichkeit zu überwachen. Wollen wir das? Einen Nanny-Staat, der uns fürsorglich zu Totalüberwachten macht, ob wir uns selbst schaden beim legalen oder illegalen Drogenkonsum, ob wir Abfall wegwerfen, gar rauchen oder vielleicht zu laut sind draussen an einem lauen Sommerabend?«Halt!», wird man mir vorwerfen, «nun blenden Sie aber das beste Argument bewusst aus: Die Überwachung soll ja Verbrechen verhindern!» Das führt zu meinem zweiten Kritikpunkt an Maudets Plänen: Sollte die Politik nicht darauf hinarbeiten, dass der Staat Verbrechen verhindert, bevor sie geschehen? Ist ein Sicherheitsdirektor nicht genau dafür verantwortlich?

Nein. Natürlich sollen die Polizei und andere Institutionen über Gefahren aufklären. Den Kindern das sichere Velofahren beibringen. Warnen, wenn Diebesbanden ihr Unwesen treiben. Und Hausbesitzer beraten, wie sie ihr Haus am besten vor Einbrechern schützen. Opferprävention nennt man das. Maudet dagegen will der Polizei die Verantwortung aufbürden, Verbrecher zu stoppen, bevor sie aktiv werden. Eine falsche Verantwortung. Denn verantwortlich für jedes Verbrechen ist am Schluss jene Person, die es begeht. Genau darum wird sie ja auch bestraft.

Es wäre nicht nur absurd, sondern auch gefährlich, wenn stattdessen plötzlich der Staat oder die Polizei zu Schuldigen würden. Wollen wir etwa, dass am Schluss der unaufmerksame Polizeioffizier bestraft wird statt der Verbrecher, weil er dem Messerstecher nicht in den Arm gefallen ist, den Vergewaltiger nicht zurückgehalten hat, dem Dieb nicht auf die Finger gehauen hat? Nein. Eltern von kleinen Kindern und Tierhalter, sie haben eine Verantwortung fürs Handeln ihrer Schutzbefohlenen. Weil Tiere und Kleinkinder sich oft der Folgen ihres Tuns nicht bewusst sind. Polizisten dagegen sollen unsere Freunde und Helfer sein und nicht unsere Erziehungsberechtigten.

Darum ist es nicht falsch, wenn der Staat zulässt, dass Böses passiert – und es erst danach verfolgt und bestraft. Eine Politik und ein Wächterstaat, die das Böse vor seinem Ausbrechen eliminieren könnten, wären für mich weit bedrohlicher als noch die schlimmstdenkbaren Ausmasse des individuell Bösen. Nicht darum, weil Freiheit mir an und für sich das höchste aller Güter ist – ohne Rücksicht auf Verluste. Sondern gerade darum, weil Eigenverantwortung, und das ist gelebte Freiheit erwachsener Menschen, nur dann gelebt werden kann, wenn sie auch mit dem Risiko behaftet ist, Fehler zu machen oder gar das Böse zu tun.

Erschienen als Politblog am 12.8.2013

Bild: By fibercool (george_orwell_bcn) [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons