blogpost_bierverbot_square«Soll es Jugendlichen Verboten werden, nach 23 Uhr auf der Strasse zu sein?» formulierte der Tages-Anzeiger diesen Montag auf seiner Internetseite die Frage des Tages. Richtig bemerkt: der Tages-Anzeiger schreibt «Verboten» gross. Und das ist ganz korrekt so. Verbieten wird heute gross geschrieben. Von den 1437 Personen, die an der nicht repräsentativen Umfrage teilnahmen, antworteten ebenso korrekt 51.8% mit Ja. Die in der Sonntagszeitung angetitelten Konzepte wie Rayonverbote und Ausgangssperren für Jugendliche sind in der Tendenz mehrheitsfähig.
Wie konnte es so weit kommen? Diese Frage ist leicht zu beantworten. Nach den Rayonverboten für Ausländer folgten jene für Punks, Drögeler und Bettler. Dann jene für so genannte Hooligans. Und nun sind als nächste «Randgruppe» halt die Jugendlichen dran. Getreu der inneren Logik, dass jedes Versagen der Repression nicht ein Versagen der Repression ist. Sondern ein Zeichen dafür, dass die Repression noch nicht umfassend genug war.
Wo führt das noch hin? Das ist schwieriger zu beantworten. Ich bin kein unkritischer Anhänger der Domino-Theorie, auch wenn die oben geschilderte Entwicklung sie plausibel scheinen lässt. Immerhin: das Ziel der repressiven Massnahmen ist schon definiert. Es gelte «die Freiheit der Anständigen» zu schützen, lässt sich die St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter zitieren. Wie weit man dabei gehen wird muss sich weisen.
Um präventiv die «Freiheit der Anständigen» zu schützen, müsste man ja vorab die Anständigen von den Unanständigen zu trennen wissen. Ein schwieriges Unterfangen. Die biometrischen Tests, welche zur Ausscheidung der «Fremden» noch genügen, bieten hier keine Hilfestellung. Wie soll man ins Innere eines Menschen schauen, seine möglichen Abgründe erahnen können? Um Vorbilder zur Lösung dieses komplexen Problems zu finden, muss man weiter zurück in die Geschichte blenden. Erfahrungen hat hier die Kirche, genauer, die mittelalterlichen Inquisitoren. Und sie wussten: Am Schluss kann einzig das Geständnis den bösen Verdacht erhärten! Und erhärtet werden kann nur der Verdacht; nie die Unschuld. Eine schwierige Ausgangslage… bislang ist die generelle Wiedereinführung der Folter ja noch nicht salonfähig.
Salonfähig scheint im Zusammenhang mit Keller-Sutters Haltung dagegen ihr Konzept der «Freiheit der Anständigen». Sie ist immer die eigene Freiheit derjenigen, die definieren, was anständig ist. Und darum hat in diesem Konzept der normierten Freiheit sowohl das Verbot von Burkinis als auch das Verbot von aufreizenden Jeans mit sichtbarem Füdlispalt bestens Platz.
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In diese Gemengelage aus Freiheitszwang und Repressions-Wahn passt übrigens auch die ganze aktuelle Debatte ums Erbe der 68er bestens hinein. Oft gestaltet ja die Geschichtsschreibung erst den Gegenstand, den sie zu analysieren vorgibt. Und so beobachten wir heute exemplarisch, wie die vorgeblich mit der Interpretation Beschäftigten recht eigentlich das «1968» der Schweiz erst konstruieren.
Noch 2005 konnte man einen grinsenden Nationalrat der SVP im Film «Downtown Switzerland» bei der Aussage ertappen, die SVPler seien «die 68er der Gegenwart und des künftigen Jahrtausends». Neue 68er mit einem hohen Ziel: das Ende der politischen Korrektheit. Denn der Common Sense der gesellschaftlichen Anständigkeit sei nichts als verlogen. Zerschlagen gehörten die falschen Formen.
Heute wird auf «1968» vom gleichen Politiker anders Bezug genommen. Er und seine GesinnungsgenossInnen singen das Lob der autoritären Erziehung. Sie wissen, dass an allem Unheil nicht nur die Jugend sondern vor allem deren fehlende strenge Erziehung Schuld ist. Ein anderes «1968» eben. Die Dialektik der konservativen Revolution schlägt Haken. Sie befreit aus der liberalen Orientierungslosigkeit, hin zum kulturell definierten Zwang gegen das Unanständige, Unangepasste, Fremde.
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«Fremde sind wir uns selbst» heisst übersetzt der Titel eines Essays von Julia Kristeva, der zugleich dessen Hauptthese zusammenfasst. Kristeva sagt, dass wir mit dem äusserlich Fremden einen Umgang finden können, der weder vereinnahmt noch bekämpft, weder das Fremde ausgrenzt noch es zwangsweise in ein System integriert, welches das Fremde auslöscht – weil wir selbst uns in dem Sinne fremd sind, dass unsere eigene Angst eigentlich das Unheimliche des eigenen Unbewussten ist. In dieser These liegt die letztlich sehr optimistische Hoffnung, dass ein Nebeneinander möglich sei.
Kaum habe ich dies geschrieben sehe ich vor meinem geistigen Auge auch schon das hämische Grinsen des oben genannten Nationalrats. Das sei nur theoretischer Quark. Typisch linke Psychologisiererei!
Stimmt. Gelebt wird diese optimistische Haltung des Umgangs mit dem Fremden heute ja nicht von den Linken. Nein. Wir sind es ja, die den Zerfall der humanistischen Werte und des Anstands beklagen. Zugleich mehr sprachliche Integration und mehr Geld für multikulturell herausgeforderte Klassen als auch die Umteilungsmöglichkeit der eigenen Kinder in eine Schule fordern, welche ihrer spezifischen Begabung gerecht werden soll. Das hat doch noch lange nichts mit dem verhassten Sozialdarwinismus zu tun, wenn wir für das soziale Kapital unserer Schweizer Kinder nach der Rendite streben, die es verdient hat, oder?
Die von Kristeva gedachte «Kohabitation mit dem Fremden» leben heute nur die Rechten und die Anständigen. Wie das? Nur sie pflegen – als Vorkämpfer für mehr Freiheit und weniger Staat – gleichzeitig mit Überzeugung das komplette Gegenteil. Sie halten es aus, das Fremde. Sie halten es nicht nur aus, nein, sie lieben es. Sie lieben das Fremde in sich selbst so sehr, dass sie den Staat so weit bringen wollen, dass er uns zwingen muss, ihn auch zu lieben: ihren inneren Taliban.