Nun hacken alle auf ihm rum, dem Sarrazin. Ihn freut‘s. Denn die Empörung war ja einberechnet und beschert seinem Schwanen­gesang aufs reine Deutschland Bestseller-Verkäufe.  „Tabubruch“ schreien jene begeistert, die sich dasselbe nicht so laut zu sagen wagten. Und der angebliche Tabubruch dient gar als Argument, um scharfe Kritik an den Thesen des Bundesbank-Vorstands zu verurteilen. So lange musste die gebeutelte Volksseele schweigen unter der Dominanz der Meinungsmacher, dass Kritik an ihrem befreienden Ausbruch offenbar schon fast einem Angriff auf das Recht auf freie Meinungsäusserung nahe kommt…
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Er soll es haben, der Deutschland-Fundi, sein Recht auf freie Meinungsäusserung! Genauso wie der Genfer Islamist Hani Ramadan das seine, um Steinigung bei Ehebruch im Iran zu verteidigen. Ich aber nehme mir die gleiche Freiheit, um beiden klar entgegen zu treten. Nur weil einer ein Tabu bricht, hat er noch lange nichts Kluges oder gar Unterstützenswertes gesagt.
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Nachdenklich stimmt mich allerdings, dass Stein des Anstosses die „Juden-Gen“ Aussage war. Verständlich ist die Reaktion zwar, zumal in Deutschland, und richtig. Allerdings ist Sarrazins Position weit gefährlicher in anderen Bereichen. Die Gen-Debatte führt bloss zu lächerlichen Episoden wie der, dass die Sonntagszeitung plötzlich einen Genetiker im Expertenstatus zu Integrationsfragen befragt… Wobei er natürlich Sarrazins Positionen oft teilt. Um schliesslich mit einer (für mich Unkundigen durchaus erheiternden) Einlassung in allem Ernst eine Neuauflage des Lamarckismus unter dem Namen Epigenetik zu verkünden.
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Gefährlicher ist Sarrazin, wo er – im Einklang mit dem Mainstream von links bis rechts – der Kulturalisierung aller Probleme das Wort redet. Wie einfach, wenn schichtspezifische Benachteiligung, fehlende Chancengleichheit, mögliche Erziehungsdefizite der Eltern einfach ausgelagert werden können! Nicht mehr Probleme unserer Gesellschaft sind, sondern der „fremden Kultur“. Und die wandert aus dem ausländischen Bauch der kriegerisch muslimischen Gebärmaschinen als „ständig neue kleine Kopftuchmädchen“ in Sarrazins heiliges Land ein.
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Schluss mit der Kulturalisierung! Schluss mit immer mehr bevormundender „Integrationspolitik“! Kämpfen wir stattdessen dafür, dass alle an den gesellschaftlichen und politischen Prozessen teilhaben können: dazu braucht‘s Rechtsgleichheit, soziale und ganz besonders ökonomische Chancengerechtigkeit aller hier lebenden Menschen.
Balthasar Glättli (Erschienen als Grüne Gedanken zur Woche im P.S. 9.9.2010)