Verkehrte Welt im Kantonsrat vor zehn Tagen. Die früheren Vertreter von «mehr Freiheit und Selbstverantwortung» argumentieren in eins mit der neuen Speerspitze staatlicher Zwangsbevormundung für Schwächere: mit der SVP. Und verwahrten sich dagegen, dass SozialhilfeempfängerInnen über ein Auto verfügen dürfen, wenn sie dies im Rahmen ihres finanziell sehr engen Korsetts überhaupt organisieren können.
Erwartet hätte man diese Position der moralisch aufgeladenen, fürsorglich-starken väterlichen Hand des Staates allenfalls von der CVP – und befürchtet vielleicht von einigen Grünen und Linken. Aber nein. Zur knappen rechten Mehrheit für den Erziehungsstaat trugen schliesslich auch zweiGrünliberale bei, die sich anders als der Rest von SP, Grünen, GLP und BDP der Stimme enthielten  – nomen ist nicht immer omen.
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Was passierte wohl, wenn die Grünen den folgenden Vorschlag machten: Niemand darf mehr ein Auto kaufen, das alles in allem mehr als 10% seines Netto-Haushaltseinkommens kostet. Und keiner ein Auto, das mehr als zehnmal so schwer  ist wie man selbst. Ausnahmen gibt’s nur bei begründetem Bedarfsnachweis gegenüber einer staatlichen Stelle… Ich höre das Heulen und Zähneklappern: Wo bleibt die Freiheit? Planwirtschaft! Sozialismus!!
Etwas anderes ist es offenbar, wenn man je bevormundet, die sowieso schon nur noch einen minimen finanziellen Handlungsspielraum haben.
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Verkehrte Welt auch diese Woche. Die Bankratswahlen sorgten für hohe Wogen – auch zwischen Rot und Grün. Meine persönliche Haltung: Ich fände eine Privatisierung der Kantonalbank völlig falsch. Ob die Regierung wirklich ein so viel geeigneteres Aufsichtsgremium wäre, wage ich zu bezweifeln. Und ich kann mir sogar vorstellen, dass es andere und bessere Gründe als nur die Pfründenwirtschaft geben mag, um die bestehende Form eines politisch gewählten vollamtlichen Dreierpräsidiums zu rechtfertigen.
Wann aber in der gegebenen Situation die grösste Partei, die sich notabene deutlich für den Status quo ausspricht, einen fachlich deutlich suboptimal qualifizierten Bewerber fürs Präsidium aufstellt, muss sie sich schon den Vorwurf machen lassen, die besten Argumente gegen das heutige Verfahren selbst zu liefern.
Und wenn die zweitgrösste Partei nicht den Mut hat, den erwähnten Bewerber konsequent für nicht wählbar zu erklären, zeigt sie, dass die demokratische Kontrolle durchs Parlament eben offensichtlich auch nicht immer sauber funktioniert.
Balthasar Glättli, erschienen als Grüne Gedanken zur Woche im P.S. vom 30.  Juni 2011