Beim Streit über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA greift Gerhard Pfister zu Marx. Balthasar Glättli kontert mit dem korrekten Zitat.
Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege, die USA und die EU werden sich zwar kaum noch vor den Präsidentschaftswahlen im Freihandelsabkommen Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) einigen. Die Schweiz sollte sich trotzdem darauf vorbereiten. Europas Linke läuft bereits jetzt dagegen Sturm. Sie auch?
Balthasar Glättli: Ja. Sowohl das Freihandelsabkommen TTIP als auch das TISA-Abkommen, das den Dienstleistungsbereich deregulieren will und so einen Frontalangriff auf den Service public darstellt, stehen seit Jahren schon im Fokus der Kritik der Grünen hier in der Schweiz, aber auch in ganz Europa.
Gerhard Pfister: Sehen Sie da nicht einen Widerspruch zwischen der von Ihnen immer wieder geforderten «Weltoffenheit», der internationalen Zusammenarbeit, dem Handel ohne nationalistischen Protektionismus und Ihrer Torpedierung genau dieser Forderungen?
Balthasar Glättli: Wir fordern weder Isolationismus noch Abschottung oder gar Chauvinismus. Sondern Regeln des Welthandels, welche faire Beziehungen, Umwelt- und Konsumentenschutzanliegen nicht unterminieren, sondern stützen. Ich teile die Einschätzung des früheren Chefökonomen der Weltbank, Joseph E. Stiglitz, der meinte, der Nutzen von TTIP für den Handel wäre nicht wirklich gross, der Schaden für Konsumentenschutz und Demokratie dagegen schon.
Gerhard Pfister: Aus meiner Sicht ist das Gegenteil der Fall. Schauen Sie sich die ungeheure Dynamik im pazifischen Raum an! Das Abkommen zur Trans-Pacific Partnership, TPP, wird das Wachstum in diesem Erdteil weiter stärken und ein wettbewerbsfähiges Gegengewicht zu China bilden können. Damit wird Europa noch mehr an die Peripherie gedrängt. Selbstverständlich muss die EU hart mit den USA verhandeln. Selbstverständlich sollen wir nicht einfach unsere Standards opfern. Aber ebenso klar ist doch, dass man TTIP erst umfassend würdigen sollte, wenn entschieden ist, was drinsteht. Die panikartige Dämonisierung von US-Imperialismus mag ja eine für Linke verlockende Geschichte sein, sachlich gerechtfertigt ist dies nicht.
Balthasar Glättli: Genau hier liegt das Problem. Wenn Parlamentarierinnen und Parlamentarier es gerichtlich erstreiten müssen, dass sie den komplexen Vertragstext hinter verschlossenen Türen und ohne Experten überhaupt anschauen können, dann öffnet das Gerüchten Tür und Tor. Leider hat der von Greenpeace geleakte Text der TTIP-Verhandlungen unterdessen gezeigt: Die Ängste waren nicht an den Haaren herbeigezogen, im Gegenteil. Zumindest haben wir Grünen mit der Fair-Food-Initiative ja noch eine Vorlage im Köcher, die faktisch auch ein TTIP-Referendum ist. Sie verlangt Lebensmittel aus naturnaher, umwelt- und tierfreundlicher Landwirtschaft mit fairen Arbeitsbedingungen – Importe sollen die gleichen Bedingungen erfüllen, die für Schweizer Bauern gelten. Kein Protektionismus also. Sondern gleich lange Spiesse zum Schutz von Umwelt und Konsumentinnen und Konsumenten.
Gerhard Pfister: Guter Werbespot, war aber auch naheliegend, dass Sie das jetzt bringen. Aber es hat nichts damit zu tun, dass der Abbau von Handelshemmnissen den Wohlstand fördert. Die EU riskiert, den Anschluss an die Wachstumsmärkte zu verlieren, die Schweiz geht dasselbe Risiko ein, sollten Europa und Amerika sich einigen. Die Schweiz ist auch deshalb eines der erfolgreichsten Länder der Welt, weil sie sich dem freien Handel nicht verschloss. Die Pioniertaten des 19. Jahrhunderts waren technischer Art. Wir eröffnen in Kürze die letzte Etappe dieses Aufbruchs, den Neat-Tunnel. Die Pioniertaten des 21. Jahrhunderts müssen die globale Förderung des Wohlstands sein und damit des Friedens. Das ist nur mit freiem Handel zu machen. Das ist wirksamer als jede noch so gut gemeinte Entwicklungshilfe. Wer miteinander handelt, hat zu viel zu verlieren, um gegeneinander kämpfen zu wollen.
Balthasar Glättli: Ich bestreite Ihre Grundannahme. Studien, die zur Unterstützung von TTIP in Auftrag gegeben wurden, ergaben ein Zusatzwachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) von 0,1 Promille pro Jahr. Da ist die Ungenauigkeit der Prognose viel grösser als der angegebene Effekt. Zudem: Ist das BIP-Wachstum alleine das, was überall Wohlstand schafft? Ich sage Nein. Gerade im internationalen Handel zeigt sich, dass die Vorteile sehr ungleich verteilt sind. Wenn Länder sich gemeinsam auf fairen Handel einigen, führt das zu mehr Stabilität, als wenn im Rahmen eines ungebändigten Freihandels jeder Markt den anderen zu unterbieten sucht.
Gerhard Pfister: Fairer Handel ist freier Handel. Nur der freie Handel gewährleistet, dass alle Marktteilnehmer ihre Leistung und ihr Produkt diskriminierungsfrei auf den Markt bringen können. Um Ihnen ein donnerndes Schlusswiderwort zu entlocken: Sogar Marx wollte dies der Arbeiterklasse ermöglichen. Karl Marx war ein Pionier des freien Handels!
Balthasar Glättli: Freihandel ohne Limiten ist kein fairer Handel. Und Marx hatte recht, als er 1848 zur Frage des Freihandels, ganz anders als Sie es ihm unterstellen, sagte: «Wenn die Freihändler nicht begreifen können, wie ein Land sich auf Kosten des anderen bereichern kann, so brauchen wir uns darüber nicht zu wundern, dass dieselben Herren noch weniger begreifen wollen, wie innerhalb eines Landes eine Klasse sich auf Kosten einer anderen bereichern kann.»
© NZZ am Sonntag; «Karl Marx war ein Pionier des freien Handels!»; 29.05.2016; Ausgabe-Nr. 22; Seite 18