Verkehrte Welt nach einem Jahr «Wir schaffen das»: Balthasar Glättli hält zu Angela Merkel, Gerhard Pfister teilt die Auffassung von SPD-Chef Gabriel.
Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege, vor einem Jahr verkündete Deutschland einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel war der Ansicht, dass dies «zu schaffen» sei. Heute scheint man die Sache – auch in Deutschland – etwas anders zu sehen. Sogar Sigmar Gabriel, der SPD-Chef und Koalitionspartner der CDU, kritisierte kürzlich Merkel, sie habe das Problem unterschätzt. Wie sehen Sie das?
Balthasar Glättli: Ich sehe das weiterhin so wie die Grünen in Deutschland und wie Angela Merkel, die Vorsitzende Ihrer Schwesterpartei. Die Wohnsituation für die Flüchtlinge hat sich vielerorts in Deutschland geklärt, aus den vorübergehend über 1000 Turnhallen, die als Notunterkünfte genutzt wurden, sind die meisten Flüchtlinge umgezogen in Regelunterkünfte. Riesige politische Herausforderungen bleiben aber: Es fehlen Plätze für Sprach- und Integrationsunterricht. Und die erhoffte Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt befindet sich erst am Anfang. Dass man das mit Elan anpacken muss und dann auch packen kann, das meinte Merkel – und damit hat sie recht.
Gerhard Pfister: In der Tat teile ich eher die Auffassung des SPD-Parteivorsitzenden. Deutschland hat vor einem Jahr einen der wichtigsten Verträge, das Schengen/Dublin-Abkommen, faktisch ausgehebelt, indem die hocheffiziente deutsche Bürokratie sich selbst demontierte und man auf einfachste Registrierungsmassnahmen und Sicherheitskontrollen verzichtete. Schon vor Jahren verlangte die CVP genau das, was Deutschland erst jetzt will: einen starken gemeinsamen Schutz der EU-Aussengrenze und eine solidarische Verteilung der Migranten auf alle europäischen Länder. Damals wurde schon die Diskussion darüber ausgerechnet von Deutschland und Frankreich verhindert. Heute fordern sie es auch.
Balthasar Glättli: Sigmar Gabriel ist ein Lustiger. Spielt sich jetzt als Merkel-Kritiker auf! Er hat wohl Angst vor dem eigenen Mut. Dabei wurde ja jetzt, zum Jahrestag des berühmten Diktums von Merkel, bekannt, dass Gabriel selbst in einem Video-Podcast schon am 22. August 2015, also Tage vor Merkel, gesagt hat: «Ich bin sicher: Wir schaffen das.» Noch schlimmer als Berufspessimisten, welche von Anfang an den Untergang des Abendlandes herbeiredeten, finde ich solche Opportunisten wie Gabriel, welche ihre Haltung den Meinungsumschwüngen anpassen, statt um Lösungen für die tatsächlichen Herausforderungen zu ringen.
Gerhard Pfister: Ich bin kein Kulturpessimist, aber ein EU-Pessimist. Die EU versagt in ihrer Währungspolitik und ihrer Migrationspolitik. Die europäische Idee – von deren Richtigkeit ich überzeugt bin – wird durch die EU und die Regierungen der Mitgliedstaaten Zug um Zug in ihr Gegenteil verkehrt. Man unterläuft beschlossene Verträge, man schützt die Aussengrenze nicht, man hat keine gemeinsame Währungspolitik. Damit sind Grundpfeiler der EU morsch geworden. Bei Bundeskanzlerin Merkel habe ich aber einen gewissen Optimismus, dass sie ihre Politik korrigieren kann: Die Umfragewerte für sie und ihre Partei zeigen zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Migrationspolitik. Die AfD erhält Zuspruch. Bisher war Merkel eine Meisterin des Machtmanagements. Wenn sie dieses Talent wieder entfaltet, wird Deutschland korrigieren müssen.
Balthasar Glättli: Über die Währungspolitik der EU haben wir uns ja auch schon unterhalten – und meine Meinung hier ist tatsächlich, dass die notwendigen Bedingungen für die Einführung des Euro nicht gegeben waren. Und dass die EU in ihrer Migrationspolitik versagt, kann ich auch unterschreiben. Ich meine damit allerdings das Gegenteil von Ihnen: Wenn die EU vorgibt, einen gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen, aber es nicht fertigbringt, ein paar Flüchtlingen einen sicheren Weg zum Asyl einzurichten, dann hat sie versagt. Die EU hat immerhin 508 Millionen Einwohner – da ist die Aufnahme von 2 oder 3 Millionen Flüchtlingen zu schaffen. Dass sich gerade in dieser Frage Merkel von der Machtmanagerin zur Werte-Verteidigerin wandelte, hat meinen Respekt.
Gerhard Pfister: Die Verteidigung der Werte sollte nicht zur massiven Gefährdung von Sicherheit und Freiheit führen. Das ist die Folge eines planlosen Aushebelns von europäischen Verträgen. Das Risiko von Terrorismus ist gestiegen, das hat gerade dieser Sommer gezeigt. Die Folgen dieser fatalen Politik werden wir noch lange spüren. Die Diskussionen zwischen den EU-Mitgliedstaaten zeigen, dass das Problembewusstsein offenbar noch nicht gross genug ist bei den Regierungschefs. Das Aufkommen radikaler Parteien wird weitergehen.
Balthasar Glättli: Wer der Meinung ist, man könne radikale Parteien stoppen, indem man einen Teil ihres Programms übernimmt und in die Tat umsetzt, irrt. Kein amerikanischer Präsident hat mehr Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung aus den USA deportiert als Barack Obama. Und dennoch haben wir heute in den USA mit Donald Trump einen Präsidentschaftskandidaten, der in dieser Frage Positionen vertritt, die selbst seiner eigenen Partei Bauchweh bereiten. Wir müssen die Werte, die uns wichtig sind, verteidigen, indem wir zu ihnen stehen. Nicht indem wir sie Schritt um Schritt preisgeben. Gerade wer – wie Sie mit der CVP – eine Debatte über die christlich-humanistischen Werte in unserer Gesellschaft führen will, sollte auch dann überzeugt zu diesen Werten stehen, wenn der Zeitgeist etwas Gegenwind mit sich bringt.
© NZZ am Sonntag; «Ich bin kein Kulturpessimist, aber ein EU-Pessimist»; 04.09.2016; Ausgaben-Nr. 36; Seite 20