Balthasar Glättli sieht in den Aargauer und Basler Wahlen einen Dämpfer für den neuen CVP-Kurs. Diese Diagnose sei verfrüht und falsch, sagt Gerhard Pfister.
Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege, die Wahlen in den Kantonen Aargau und Basel Stadt wurden von vielen Medien als Formtest der Parteien ein Jahr nach den eidgenössischen Wahlen beschrieben. Wie sehen Sie das? Und sind Sie zufrieden mit den Ergebnissen für die Grünen?
Balthasar Glättli: Neben dem bitteren, aber nicht ganz unerwarteten Verlust des Regierungsratssitzes im Kanton Aargau sehe ich durchaus Licht am Horizont. Dass Elisabeth Ackermann in Basel im ersten Wahlgang gleich das absolute Mehr schafft und wir zulegen konnten im Parlament, ist ein tolles Zeichen. Und im Kanton Aargau haben wir die letzten Herbst verlorenen Wählerprozente praktisch wieder aufgeholt. Allerdings gilt auch: Die Nervosität und Absolutheit, mit der viele Medienschaffende jeweils kantonale Wahlen zum Formtest der nationalen Parteien heraufschreiben, hat etwas Gesuchtes. Auch wenn man es gerne hinnimmt, wenn die Resultate erfreulich sind.
Gerhard Pfister: Majorzwahlen sind für die CVP kein Problem, im Gegenteil, wir haben ein grosses Potenzial an fähigen Leuten, die über die Parteigrenzen hinweg Akzeptanz finden. Hingegen war ich nicht besonders überrascht, dass ich als neuer Präsident gleich mitgetestet wurde durch die Medien. Und natürlich nimmt man lieber positive Resultate entgegen. Es ist nun mal Faktum: Heute werden die Wählerentscheide für bestimmte Parteien sehr stark von dem politischen Geschehen in Bundesbern beeinflusst, auch in kantonalen Wahlen, wo es streng genommen ja vor allem um Themen und Personen aus dem Kanton gehen sollte. Man wertet damit die konkrete und wichtige politische Arbeit in Kantonen und Gemeinden ab. Das bedauere ich zwar, muss es aber als Gegebenheit hinnehmen und geeignete Antworten darauf finden, die meiner Partei wieder Erfolge auch in Parlamentswahlen ermöglichen.
Balthasar Glättli: Aus meiner Erfahrung kenne ich das schon lange: Als ich 1991 den Grünen beitrat, interessierte mich auch in erster Linie die nationale Politebene – und allenfalls dann ganz lokale Themen. So neu ist der Einfluss von Bundesbern auf die Grundwahrnehmung einer Partei also nicht… Die spezifische Frage danach, welche Politentscheide im Detail auf welcher Ebene unseres föderalen Staates gefällt werden, ist natürlich aus der Innensicht der Politikerinnen und Politiker wichtig. Die Wählenden kümmert es weniger. Darum fand ich es nicht völlig vermessen, dass einige Kommentare die Dämpfer in den Legislativwahlen beider Kantone auch als ersten missglückten Test ihres katholisch-konservativen Kurses analysierten. Retten Sie sich nun in die Mitgliederbefragung, um dieses Abenteuer noch rechtzeitig abzubrechen?
Gerhard Pfister: Die Mitgliederbefragung haben wir im Mai initiiert, im August durchgeführt – jetzt sind wir am Auswerten. Massnahmen werden im ersten Halbjahr 2017 eingeleitet. Das ist der Fahrplan. Die Medien wurden schon im Mai informiert, berichten aber natürlich erst jetzt darüber, weil es jetzt ins gewünschte ideologische Drehbuch einer Story passt, die da heisst: Der Kurs des neuen Präsidenten ist gescheitert. Es ist übrigens kein katholisch-konservativer Kurs, sondern ein CVP-Kurs, der Stellung bezieht zum Islamismus, zum Rechtsstaat und dazu, was es heisst, dass die Schweiz ein vor allem christlich geprägtes Land ist. Zudem ist es unsere Aufgabe, das C in unserem Parteinamen politisch zu konkretisieren. Jedenfalls ist der Zuspruch auch aus reformierten Kreisen grösser, als man sich vorstellen kann, wenn man diese Diskussion auf den Präsidenten personalisiert. Gerade dieses Wochenende hat der CVP-Vorstand die Positionen zum Verhältnis Fundamentalismus und Rechtsstaat diskutiert. Es war eine offene, kontroverse und gute Diskussion, wie sie typisch ist für die CVP. Die gleichen Medien, die jetzt Kritik üben, werden die ersten sein, die opportunistisch umfallen, wenn die CVP wieder Wahlen gewinnt. War bei Philipp Müllers FDP gleich. Manche Medien sind noch opportunistischer als manche Politiker.
Balthasar Glättli: Ich hoffe sehr auf die kritischen Kräfte innerhalb der CVP. Mich erinnert Ihre Position an den Kampfruf des katholisch-konservativen Johann Nepomuk Schleiniger: «Die Schweiz ist geschichtlich ein Vaterland der Christen.» Er richtete sich anno dazumal damit gegen die Gleichberechtigung der Aargauer Juden. Heute müssen nun offenbar die Muslime die Rolle des Sündenbocks einnehmen. Wollen wir wirklich zurück zur Auseinandersetzung von 1874, als sich die Katholisch-Konservativen gegen die Festschreibung der Religionsfreiheit in der Verfassung wehrten?
Gerhard Pfister: Die CVP will das nicht. Sondern die CVP will, dass in der Schweiz keine Parallelgesellschaften entstehen, dass der Rechtsstaat für alle gilt und dass keine Extremisten gleich welcher Couleur behaupten können, die Gesetze gälten für sie nicht. Der politische Islamismus teilt diese Werte nicht. Die CVP betrachtet es als ihre Verantwortung, darauf christdemokratische Antworten zu finden.
Balthasar Glättli: Wer «christdemokratische Antworten» zum Schutze des Rechtsstaats fordert, verteidigt nicht den modernen liberalen Rechtsstaat, sondern bereitet sein Begräbnis. Kein Artikel unserer Verfassung verbietet, dass verschiedene gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Milieus nebeneinander leben – im Gegenteil, der Rechtsstaat ermöglicht dies und setzt dabei allen die gleichen Grenzen. Die Schweiz braucht keine katholisch-konservativen Sittenwächter!
© NZZ am Sonntag; «Die Schweiz braucht keine katholisch-konservativen Sittenwächter!»; 30.10.2016; Ausgaben-Nr. 44; Seite 20