Die Digitalisierung bringt zwei Gegner zusammen – so nahe, dass Gerhard Pfister einen New Deal anregt und Balthasar Glättli seine konservative Seite entdeckt.
Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege, nach den heftigen Debatten der Session könnten wir doch einen politischen Ausblick auf 2017 wagen. Die USA werden einen neuen Präsidenten haben, dessen Absichten nach wie vor diffus sind. Die EU wird von einer Krise zur andern taumeln. In Frankreich und Deutschland stehen Wahlen an. In der Schweiz werden mit der Unternehmenssteuerreform, der Altersvorsorge sowie der Energiestrategie wichtige Weichen gestellt. Und der Terrorismus wird wohl weiter eine Bedrohung für die Welt bleiben. Wie sehen Sie das?
Balthasar Glättli: Ich sehe noch zwei weitere globale Fragestellungen, die durchaus direkte Auswirkungen auf die Schweiz haben: Der Kampf gegen den Klimawandel, also die Frage, ob das Pariser Abkommen leeres Versprechen bleibt oder nicht. Und zweitens die Herausforderungen der Digitalisierung. Nur drei Beispiele: Wie werden die Politik und die öffentliche Debatte beeinflusst durch die Möglichkeiten von Big Data? Wie viele neue Arbeitsplätze entstehen – und wie viele verschwinden? Und was hat das für Auswirkungen auf unsere Sozialsysteme und den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Was bedeutet es, wenn durch Internetplattformen wie Uber und Airbnb immer mehr Märkte globalisiert und gleichzeitig privatisiert werden?
Gerhard Pfister: Sie haben recht, die Digitalisierung wird uns vor gewaltige Herausforderungen stellen. Auch weil wir über die Folgen dieser Revolution noch zu wenig wissen. Aber ich würde eher die Chancen als die Risiken betonen. Natürlich bringen Internetplattformen Strukturveränderungen. Aufhaltbar sind sie nicht, nur lenkbar. Dafür werden neue Berufsbilder entstehen. Die Wichtigkeit der Bildung wird zunehmen. Sorgen machen mir die Menschen, die diesem Wandel nicht mehr folgen können. Herkömmliche Rezepte werden wohl kaum ausreichen. Es wird Sie vielleicht erstaunen, aber wenn ich sehe, wie Gesellschaften auseinanderbrechen, wie die Krisen sich häufen, dann kommt mir ab und zu der Gedanke, man müsste für unsere Gesellschaft einen New Deal entwickeln, wie ihn US-Präsident Roosevelt einleitete.
Balthasar Glättli: Absolut einverstanden. Der New Deal bedeutete ja wörtlich nichts anderes, als dass die Karten neu gemischt werden sollten. Und nehmen wir dieses Spiel nicht selbst in die Hand, schaffen wir es nicht, die Chancen der Digitalisierung so zu nutzen, dass sie allen statt wenigen zugutekommen. Das bedeutet auch das Setzen von Rahmenbedingungen im digitalen Raum, so wie dies Roosevelt tat, als er Anti-Trust-Bestimmungen erliess oder mit der Glass-Steagall Act das Trennbankensystem einführte. Und – das wird nun Sie vielleicht erstaunen – ich bin auch der Meinung, dass man viel Tempo aus der technikgetriebenen Entwicklung herausnehmen müsste, damit man sie gestalten kann, statt nur auf sie zu reagieren. Also etwas mehr Konservatismus. Etwas mehr Abwägen, ob es auch Gutes gibt, das zu bewahren ist.
Gerhard Pfister: Genauso, wie die Rahmenbedingungen für die Digitalisierung fehlen, sind auch die Wirtschaftsordnungen neu zu justieren, jenseits der Polarität Kapitalismus contra Sozialismus, die meines Erachtens ebenfalls von den Entwicklungen überholt wurde. Vieles, was heute im Namen der Marktwirtschaft verlangt wird, ist fast das Gegenteil davon. Auch das kritische Etikett «neoliberal» taugt wenig als Analyse, denn Wirtschaftspolitik, wie sie Trump oder auch Putin vertreten, ist nicht liberal im Sinne von pro market, sondern nur Oligarchismus im Sinne von pro business. Die Linke – ausser eventuell die Schweizer SP mit ihrer Klassenkampfrhetorik – scheint sich wirtschaftlich ebenfalls neu positionieren zu müssen. Die Renaissance der echten sozialen Marktwirtschaft – ich schreibe natürlich auch etwas pro domo – könnte da eine Chance sein. Ein New Deal für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung.
Balthasar Glättli: Dass Sie, als Vertreter des Rohstoffhandelsplatzes Zug, das ernst meinen, wage ich zu bezweifeln! Aber wenn Sie es tun, rennen Sie offene Türen ein bei den Grünen, haben wir doch unsere letzte Delegiertenversammlung unter das Motto «Fairtrade statt Freetrade» gestellt. Globalisierung und Nationalismus sind ein falscher Gegensatz. Denn Neoliberalismus und Chauvinismus sind Janusköpfe der gleichen Entwicklung, von der nur unterschiedliche Business-Oligarchen profitieren. Das Französische kennt die schöne Bezeichnung «Altermondialistes» – ich stehe in ihrem Sinne für eine andere Globalisierung, eine Globalisierung der Gerechtigkeit ein.
Gerhard Pfister: Die weihnächtliche Harmonie sollte nicht alle Unterschiede verwischen, die zwischen uns bestehen. Der Grundgedanke der sozialen Marktwirtschaft ist näher bei der Selbstverantwortung und der Freiheit, als Sie wollen. Gerechtigkeit zu globalisieren, halte ich auch für ein erstrebenswertes Ziel, aber gerade mit Marktwirtschaft, nicht gegen sie. Trump und Putin haben keine marktwirtschaftliche faire Haltung, sie wollen nur dort Markt, wo es jenen nützt, die ihnen nahestehen. Ein New Deal einer besseren Weltwirtschaftsordnung müsste sich an der Marktwirtschaft orientieren, die eben nicht regelloser Dschungel ist, sondern fairer privater Wettbewerb mit moderaten staatlichen Regelungen. Vielleicht kommen wir 2017 da weiter.
Balthasar Glättli: Ohne falscher Harmonie zu verfallen: Wenn dabei auch eine lokal wie global fairere Verteilung des Wohlstands statt blinder Wachstumsorientierung mitgedacht wird und wenn ein respektvoller Umgang mit Mensch und Umwelt hinzukommt – dann können wir durchaus zumindest einen Teil des Wegs zusammen gehen.
© NZZ am Sonntag; «Man müsste für unsere Gesellschaft einen New Deal entwickeln»; 25.12.2016