Balthasar Glättli möchte Papierlosen in der Schweiz einen legalen Aufenthalt ermöglichen. Gerhard Pfister findet eine solche Amnestie hochproblematisch.
Balthasar Glättli: Geschätzter Kollege, plötzlich ist das Thema Legalisierung von Sans-Papiers wieder auf dem Tisch. Und zwar nicht wie üblich durch linke und grüne Forderungen. Sondern dank dem Genfer FDP-Regierungsrat Pierre Maudet. Was halten Sie von seiner «Opération Papyrus», die langjährig hier anwesenden Sans-Papiers einen Weg in die Legalität ermöglicht?
Gerhard Pfister: Geschätzter Kollege, auch wenn das von einem bürgerlichen Regierungsrat kommt, macht es die Sache nicht besser. Von solchen Ideen halte ich gar nichts. Ich sehe das Problem, aber diese Vorschläge untergraben den Rechtsstaat.
Balthasar Glättli: Das ist nicht wahr. Für das Genfer Projekt mussten keine Gesetze geändert werden. Sondern es wird endlich praktisch umgesetzt, was die damalige CVP-Bundesrätin und Justizministerin Ruth Metzler als Gegenvorschlag zu unserer Forderung nach einer kollektiven Regularisierung von Sans-Papiers aufgegleist hat: eine Härtefallregelung, welche in Betracht zieht, wie lange Personen in der Schweiz sind und welches Verhalten sie an den Tag gelegt haben. Sans-Papiers sind ja – nicht zuletzt aufgrund ihres prekären Aufenthaltsstatus – darauf bedacht, nicht polizeilich auffällig zu werden, und gehören damit zu den gesetzestreuesten Personen.
Gerhard Pfister: Ich halte an meiner Meinung dezidiert fest, dass solche Entscheide hochproblematisch sind. Eine Ausnahme von gesetzlichen Regelungen für ein ganzes Kollektiv kommt in einem Rechtsstaat dem Öffnen der berühmten Büchse der Pandora gleich. Ich halte deshalb auch Amnestien für Steuersünder für keine gute Sache und wehre mich in meiner Partei immer dagegen. Allerdings erfolglos, das gebe ich zu. Wer in die Schweiz kommt, ohne ein Aufenthaltsrecht zu haben, muss wissen, dass er gegen das Gesetz verstösst. Mit einer Regularisierung machen wir diese Art des Aufenthalts zudem nur attraktiv für weitere Menschen. Sie kommen in der Hoffnung zu uns, durch die Macht der Fakten, also ihren langjährigen unauffälligen Aufenthalt, Recht zu «schaffen».
Balthasar Glättli: Die Tatsachen sprechen eine deutliche Sprache: Die bisherige Politik der Härte und Herzlosigkeit hat keinesfalls verhindert, dass es Sans-Papiers in der Schweiz gibt. Und ihre Präsenz folgt der puren Marktlogik. Sans-Papiers sind auch hier, weil sie von Arbeitgebern angestellt werden. Denn da sie ja auf keinerlei Sozialhilfe zählen können, sind sie darauf angewiesen, ihr Leben selbst zu verdienen. Übrigens ist das auch ein Hauptargument von Maudet: Er sieht die Legalisierungsaktion auch als Beitrag gegen die Schwarzarbeit. Er hat recht.
Gerhard Pfister: Nein. Er verschärft die Problematik der Schwarzarbeit nur, indem er diese Praxis für weitere Menschen attraktiv macht. Natürlich müssen Arbeitgeber, die Sans-Papiers anstellen, ebenfalls gebüsst werden für dieses illegale Handeln. Aber man kann Illegalität nicht legalisieren, indem man sie zulässt. Zudem gefährden solche Arbeitgeber die Sozialpartnerschaft, indem sie Sans-Papiers einstellen statt die zugegebenermassen teureren inländischen Arbeitskräfte. Im Einzelfall hat der Staat die Möglichkeit, auf Härtefallgesuche einzutreten. Das genügt und ist keineswegs herzlos. Aber mit einer generellen Amnestie schiebt man das Problem nur kurzfristig beiseite, ohne es wirklich anzugehen.
Balthasar Glättli: Die «Opération Papyrus» ist nur möglich, weil sie eben keine generelle Amnestie bedeutet – was abgesehen davon durchaus sinnvoll wäre. Die «Opération Papyrus» basiert aber auf dem geltenden Ausländerrecht. Nur wer mindestens zehn Jahre – bei Familien mit Schulkindern fünf Jahre – hier gelebt hat und dies dokumentieren kann, die Landessprache spricht, nicht vorbestraft ist und einen guten Leumund aufweist, kann ein Gesuch stellen. Übrigens zeigt die Tatsache, dass in der Schweiz Zehntausende Menschen diese Kriterien erfüllen, dass das Konzept des Ausländergesetzes nicht aufgeht. Es führt nicht dazu, dass weniger Menschen aus Drittstaaten als Hausangestellte, Reinigungskräfte, Erntehelfer oder Bauarbeiter in die Schweiz kommen. Sondern nur dazu, dass sie leichter ausgebeutet werden können. Einem Sans-Papiers, der seinen Arbeitgeber anzeigt, darf anschliessend nicht die Ausschaffung drohen. Nur so ist das Schweigekartell zu durchbrechen.
Gerhard Pfister: Ihre Wortwahl insinuiert, dass die Schweiz keine verlässlichen rechtsstaatlichen Strukturen hätte. Wir sind doch kein Land mit Schweigekartellen! Aber es rächt sich jetzt eben die Laisser-faire-Haltung von Behörden in gewissen Kantonen. Es fehlte ihnen am politischen Willen, dem Rechtsstaat Geltung zu verschaffen. Das holt sie jetzt ein.
Balthasar Glättli: Völlig falsche Analyse, politisch wie menschlich. Dass Härte und totale Kontrollen Migration und irreguläre Anwesenheit verhindern können, ist eine Illusion. Wollen Sie etwa Polizisten, die in unregelmässigen Abständen an alle Wohnungstüren klopfen, um zu kontrollieren, ob dort eine Haushaltshilfe oder eine Pflegehilfe ohne Aufenthaltsbewilligung arbeitet?
Gerhard Pfister: Sie kapitulieren vor illegalem Verhalten und heissen es damit gut. Nur weil man Steuerhinterzieher nicht erwischt, würden Sie deshalb nie wollen, dass man den Rechtsstaat ausser Kraft setzt. Genau das Gleiche gilt für das Migrationsrecht. Der Rechtsstaat ist kein Selbstbedienungsladen, wo man nur das annimmt, was einem passt.
© NZZ am Sonntag; «Sans-Papiers sind auch hier, weil sie von Arbeitgebern angestellt werden»; 02.04.2017