Den EU-Plan im Umgang mit der Migration hält Balthasar Glättli für verlogen. Für Gerhard Pfister dagegen zieht Europa die richtigen Lehren – aber viel zu spät.
Balthasar Glättli
Geschätzter Kollege, der Europäische Gerichtshof hat Klartext gesprochen. Die Flüchtlingsquoten in der EU gelten auch für Orbans Ungarn und für die Slowakei. Gleichzeitig will Frankreichs Präsident Macron dauerhafte Strukturen in Libyen aufbauen. Ist die Auslagerung der Flüchtlingspolitik tatsächlich eine realistische und menschenrechtlich haltbare Option? Oder ist es eher eine politische Nebelpetarde?
Gerhard Pfister
Weder – noch. Das Urteil versucht, eine Fehlentwicklung zu korrigieren, die die EU vor zwei Jahren verantwortet hat. Es war damals völlig verständlich, dass Länder wie Ungarn sich dagegen wehrten, das merkelsche Diktat der bedingungslosen Ei10nreise aller Migranten ohne jegliche Strukturen und Kontrollen zu akzeptieren. Es zeigt zudem wieder einmal, dass das Argument, in einer EU hätte man als Kleinstaat etwas zu sagen, völlig verfehlt ist. Deutschland diktiert.
Man bestraft jetzt Ungarn, als ob dieses Land das Problem wäre, während 120 000 Menschen nach wie vor nicht auf die verschiedenen Länder verteilt wurden, wie es vereinbart war. Und erst jetzt wollen dies Merkel und Macron endlich korrigieren, indem sie das Schlepperwesen vor Ort, nämlich in Nordafrika, eindämmen wollen. Aber das Unheil ist angerichtet: Europa wird noch Jahre daran leiden, dass sich hier Menschen bewegen, die islamistischen Terror verbreiten oder keinerlei Integrationswillen zeigen oder keine Asylgründe haben.
Balthasar Glättli
Das sehe ich alles anders. Ungarn wehrte sich explizit gegen die Verteilung, weil es Flüchtlingspolitik nicht als gemeinsame Verantwortung ansieht. Dabei ist genau das zwingend und der Geburtsfehler des Dublin-Abkommens, welches die Belastung auf die Staaten an der Aussengrenze der EU abwälzt. Die Schweiz bringt auch nicht alle Flüchtlinge im Tessin unter! Der sogenannte Kampf gegen das Schlepperwesen ist verlogen. Verlogen gegenüber politischen Flüchtlingen: Die haben ja keine Möglichkeit, legal einzureisen! Verlogen aber auch, was Arbeits- oder Elendsmigration betrifft.
Vor der Schliessung und Militarisierung der Aussengrenzen und vor der Einführung der EU-Richtlinie 2001/51/EG gab es praktisch keine Toten im Mittelmeer, stattdessen funktionierte eine saisonale Migration nach Spanien aus Nordafrika, und politische Flüchtlinge konnten via Flugzeug günstiger und sicherer in die EU reisen als heute mittels Schleppern.
Gerhard Pfister
Nein, es ist eben kein Geburtsfehler. Es ist der Sinn von Dublin, die Aussengrenze gemeinsam zu schützen, wenn man mit Schengen im EU-Raum die Grenzen abbaut. Ungarn wird dafür kritisiert, dass es sich weigerte, Schengen/Dublin ausser Kraft zu setzen. Genau das hat nämlich Merkels «Wir schaffen das!» bewirkt! Die Einwanderungswelle vor zwei Jahren wäre nie so unkontrolliert abgelaufen, wenn die EU ihre eigenen Verträge umgesetzt hätte. Dass man jetzt Ungarn verurteilt, weil es sich an Schengen/ Dublin hielt, ist zynisch. Ebenso zynisch weigerte sich die EU, die Aussengrenzenstaaten wie Griechenland, Italien, Spanien wirksam zu unterstützen. Eine Verteilung der Migranten in Europa funktioniert nur, wenn die Aussengrenze gemeinsam geschützt wird, wenn die Migranten dort registriert werden und dann sichergestellt ist, dass sie auch in den zugeteilten Ländern bleiben.
Deutschland agierte vor zwei Jahren chaotisch. Dass man jetzt in Nordafrika europäische Zentren für die Registrierung von Migranten plant, ist etwas, was wir schon vor fünf Jahren gefordert haben. Diese Massnahme – wenn sie denn umgesetzt wird kommt aber vermutlich zu spät.
Balthasar Glättli
Die Registrierungszentren, die Macron jetzt und die Sie vor fünf Jahren forderten, die forderte SPD-Hardliner Otto Schily schon vor Jahrzehnten. Klüger und menschenrechtskompatibler sind sie deshalb nicht! Auch Merkel und Schulz haben sich da in ihrer als Duell getarnten TV-Koalitionsverhandlung nicht mit Ruhm bekleckert. «Die Würde des Menschen ist unantastbar», wurde da gesagt und schon im nächsten Atemzug festgestellt, dass die Würde aber ausserhalb Deutschlands nichts gelte. Und der Autokrat Erdogan wurde willkommener Partner zur Flüchtlingsabwehr, genauso wie die libyschen Milizen und früher Ghadhafi. Ja, die EU und Italien verhandelten einst noch mit Ghadhafi über seine Flüchtlingsabschreckung, als die Bomber gegen sein Land ihre Triebwerke schon Warmlaufen Hessen… Ehrlich wäre, zu sagen: Wir wollen eine Festung Europa, wir wollen eine militärische Flüchtlingsabwehr. Dagegen würde ich dann offen kämpfen können: Für eine Politik, deren fernes, aber ernstes Ziel eine Globalisierung der Gerechtigkeit, der Menschenrechte und der Menschenwürde ist und nicht die Einmauerung in einem verlogenen EU-Paradiesli.
Gerhard Pfister
Sie machen es sich zu einfach. In dieser Logik müsste man auf jegliche Migrationskontrolle verzichten und allen, die es nach Europa schaffen, den gesamten Sozialstaat und dessen Leistungen zukommen lassen. Damit schafft man den Nährboden für Parteien wie die AfD, deren Einzug in den Bundestag sehr wahrscheinlich ist. Wenn es die EU nicht schafft, das Problem zu lösen, verliert sie noch mehr Vertrauen in der Bevölkerung. Europäische Zentren in Nordafrika würden keine rechtsfreien und menschenunwürdigen Räume bedeuten. Im Gegenteil: man erspart den Menschen, die keine Aussicht auf Aufnahme als Flüchtlinge in Europa haben, viel Leid. Die Europäer könnten in solchen Zentren Rechtsstaat und Menschenwürde gewährleisten. Schliesslich darf sich Europa nicht um die schwere Aufgabe drücken, auch Menschen wieder in ihre Länder zurückzuführen, wenn sie keine Asylgründe haben.
© NZZ am Sonntag; «Die Schweiz bringt auch nicht alle Flüchtlinge im Tessin unter!»; 10.09.2017