Braucht es in Notlagen eine Stärkung des Parlaments gegenüber dem Bundesrat? Ich meine ja. Allerdings sind solche Forderungen eher unglaubwürdig, wenn Vertreter der gleichen Parteien, die dies nun fordern, die Anträge der GRÜNEN im Büro abgelehnt haben, welche es ermöglicht hätten, dass das Parlament agiler und rascher arbeiten kann für die Behandlung eigener Vorstösse im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Zudem gilt: Auch eine bessere parlamentarische Kontrolle der bundesrätlichen Notverordnungen schützt nicht vor der  (potentiell noch viel gravierenderen) Verletzung von Grundrechten durch parlamentarische Notverordnungen. Dazu ein paar Gedanken, erschienen am 8. Mai im P.S.
Die letzten Wochen erlebten wir in der Schweiz eine nie dagewesene und nie für möglich gehaltene Einschränkung der Grundrechte. Eingeschränkt oder gar ganz aufgehoben hat der Bundesrat die folgenden Grundrechte: das Recht auf persönliche Freiheit (Bundesverfassung Art. 10), Glaubensfreiheit (BV Art. 15), Anspruch auf Grundschulunterricht (BV Art. 19), Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (BV Art. 22 und 23), politische Rechte (BV Art. 34) und Wirtschaftsfreiheit (BV Art. 27). Zwischenzeitlich haben einzelne Kantone weitere Grundrechte eingeschränkt, wie z.B. der Kanton Uri mit dem kurzzeitigen Ausgeh- und der Kanton Tessin mit dem Einkaufsverbot für über 65jährige die Rechtsgleichheit (BV Art. 8).
Dies ist kein Staatstreich. Sondern der Versuch der Exekutive, angesichts einer drohenden Notstandssituation das Notwendige zu verordnen, um die Situation in den Griff zu kriegen. Sie stützt sich dabei auf das Epidemiengesetz und die Bundesverfassung, die in Artikel 185. Doch eine Rechtsgrundlage ist noch lange keine Generalvollmacht. Auch in Ausnahmesituationen braucht ein Rechtsstaat gewisse Checks and Balances.

Auch in Ausnahmesituationen braucht ein Rechtsstaat Checks and Balances. Darum fordern wir GRÜNE, dass das Bundesgericht Notverordnungen des Bundesrats und des Parlaments auf ihre Verfassungsmässigkeit prüft.

Viele haben in den letzten Wochen die Absenz des Parlaments beklagt. Und mit Beginn der Session den Wiederbeginn der Demokratie besungen. Sie blenden aber aus, dass zu einem Demokratischen Rechtsstaat nicht nur die Demokratie gehört, sondern auch der Schutz der Grundrechte. Dass ein tagendes Parlament noch lange nicht bedeutet, dass die Grundrechte gewährleistet sind. Denn die gleichen, nein, noch viel weitergehende Notstandskompetenzen wie der Bundesrat hat auch unser Parlament. Es kann Notverordnungen verfügen mit einer Geltungsdauer von gar bis zu drei Jahren. Und es muss dabei keiner anderen Instanz als sich selbst Rechenschaft ablegen.
Darum verlangen wir GRÜNEN mit einer parlamentarischen Initiative (20.430), dass es zumindest zur Überprüfung von Notverordnungen eine Art Sonder-Verfassungsgerichtsbarkeit geben muss. Das Bundesgericht sollte bei der Anwendung von Notrecht rasch und unabhängig überprüfen, ob die Einschränkung der einen Grundrechte zum Schutze von anderen verhältnismässig sei. Diese abstrakte Normenkontrolle – also eine generelle Überprüfung, nicht eine, die auf der Klage eines Betroffenen basiert – muss insbesondere prüfen, ob die Einschränkungen der Grundrechte im Vergleich zu den angestrebten Schutzzielen verhältnismässig ist. Das heisst, die Notmassnahmen müssen geeignet, zweckmässig und erforderlich sein.
Ich hoffe, dass die Sensibilität für den Wert der Grundrechte auch in der Bevölkerung gestärkt und nicht geschwächt ist!
Balthasar Glättli
(Dieser Text erschien als GRÜNE Gedanken zur Woche in der Wochenzeitung P.S. am 8. Mai 2020)