Nun ist sie da, die Maskentragpflicht im ÖV, im öffentlichen Verkehr. Alle respektieren sie. Und das ist gut so. Aber eigentlich ist es auch kein Wunder. Denn in früheren Umfragen hatte sich eine deutliche Mehrheit der Befragten schon im April für eine solche Pflicht ausgesprochen. 60 Prozent waren es in einer Tamedia-Umfrage am 20. April – und zwar von links bis rechts.

Vor diesem Hintergrund verstand ich die kritischen Bemerkungen von Barbara Bleisch in einem Kommentar letzten Dienstag: Eine Demokratie braucht keine trottende Herde, die allein auf Befehlsgewalt reagiert, bemerkte sie treffend. Wenn ja viele schon für die Pflicht waren: Warum handelten dann so wenige konsequent danach? Ja, eine Demokratie braucht verantwortungsbewusste BürgerInnen. Aber ich kann mir nicht verkneifen, dazu doch eine kritische Anmerkung anzufügen. Das Handeln als Privatperson und das Handeln als politische Bürgerin oder Bürger, das muss nicht immer identisch sein. Schon Rousseau mahnte diesen Unterschied an zwischen Bourgeois und Citoyen.

Wenn eine demokratische Mehrheit das Gemeinschaftsinteresse (zum Beispiel in der Klimafrage) über den privaten Eigennutz stellt und zu diesem Zweck bestimmte Vorschriften erlässt, dann ist das in meinem Verständnis keine “Verbotspolitik”, sondern der vernünftige Gebrauch der bürgerlichen Freiheit.
— Balthasar Glättli

Nicht jeder Widerspruch zwischen privatem Handeln und politischer Haltung ist unvernünftig. Und nicht jeder Widerspruch zwischen privatem Handeln und politischer Haltung untergräbt die Glaubwürdigkeit der politischen Haltung. Ein aktuelles Beispiel: Eine Person fährt weiter ihren Benziner. Und sie ist trotzdem dafür, dass nur Autos mit CO2-freien Antrieben neu zugelassen werden und ein saftiger Ökobonus auf Treibstoffen kommt. Hier ist der Nutzen der Handlung für die Privatperson gross, der Klima-Schaden aber trifft die Allgemeinheit. Für die Lösung der Umweltprobleme, für eine auch sozial anständige Wirtschaft, für den Kampf gegen die Weiterverbreitung einer ansteckenden Krankheit: In vielen solchen Bereichen reicht die Vorbildlichkeit einiger im privaten Handeln nicht. Es braucht vielmehr die politische Entschlossenheit einer Mehrheit, sich selbst als demokratischer Gesellschaft Regeln zu geben, die vernünftig sind. Und zum Nutzen aller.

Aha, die Grünen sind einmal mehr unterwegs als Verbotspartei… Ich höre schon die Kritik. Und antworte gerne: Jein! Verbote im negativen Sinn des Wortes, das sind autoritär von oben diktierte Zwänge. Zu denen ich nichts zu sagen hatte und deren Sinnhaftigkeit sich im schlimmsten Falle nicht einmal bei viel gutem Willen erschliesst. Daran störe ich mich sehr.

Was aber ist, wenn eine demokratische Gesellschaft nach einer offenen Debatte beschliesst, sich selbst gewisse Regeln zu geben? Wenn eine Mehrheit das Gemeinschaftsinteresse (zum Beispiel in der Klimafrage) über den privaten Eigennutz stellt und zu diesem Zweck bestimmte Vorschriften erlässt? Dann ist das in meinem Verständnis der vernünftige Gebrauch der bürgerlichen Freiheit: Dass wir als StaatsbürgerInnen, wenn wir unsere gemeinsamen Regeln aufstellen, klüger, solidarischer, verantwortungsvoller für die Allgemeinheit sein können und sein sollen, als wir das in jeder Minute unseres privaten Einzeldaseins sind.

Balthasar Glättli,
Präsident GRÜNE

(Dieser Text erschien am 10.7.2020 als “Grüne Gedanken zur Woche” in der Wochenzeitung P.S.)