person holding change the politics not the climate printed board

In letzter Zeit fühlte ich mich öfter teleportiert. Zurück in die 1990er-Jahre. Die Zeit der «culture wars», wie die Auseinandersetzungen um Antirassismus, Gay-Rights, Multikultur und Integration genannt wurden. In diesem Kulturkampf standen sich unterschiedliche Lebensstile gegenüber. Statt über die Klimaerhitzung stritt man plötzlich über «political correctness». Heute werden die Irrungen und Wirrungen über die angebliche Cancel Culture durch die Rückkoppelung in den Onlineblasen weiter angeheizt.
Ich teile die häufigste Abstimmungsanalyse zum Wahlsonntag: Die asymmetrische Mobilisierung zwischen Stadt und Land hat das CO2-Gesetz wertvolle Prozente gekostet. Mein Nationalratskollege und menschlicher Grossrechner Daniel Brélaz beobachtete zudem: Alle Vorlagen erhielten gut fünf Prozent mehr Nein-Stimmen als bei den letzten Umfragen. Eine Mobilisierung der QuerdenkerInnenkreise mit einem staatskritischen 5xNein? Nicht von der Hand zu weisen.
Eine weitere Lehre vom Sonntag: So schön Lenkungsabgaben in der Theorie sein mögen – an der Urne fliegen ihnen die Herzen nicht zu. Selbst die für inländische CO2-Kompensation gedachten Benzinrappen wurden erfolgreich zur unerträglich hohen Lenkungsabgabe umgedeutet. Das bestätigt, was ich 2008 im ‹Widerspruch› schrieb: «Die politische Lenkung über den Preis ist kein Wundermittel. (…) Die politisch durchsetzbaren Anreize sind praktisch vernachlässigbar gegenüber den möglichen realen Preisschwankungen. »
Geredet wurde über Rappen statt über Milliarden. Geredet wurde über Lifestyle statt über die Klimakrise. Eine Verschiebung der Diskussion, welche uns zum Nachdenken bringen sollte. Und das sind ja nicht die einzigen Herausforderungen, denen gegenüber sich die parlamentarische Demokratie schwertut, Abstimmungsvorlagen zu produzieren, die an der Urne auch eine Mehrheit finden. Denken wir nur an die Altersvorsorge oder die europäische Integration.
Ist die Demokratie also ein Hindernis für zukunftsfähige Würfe? Ich behaupte das Gegenteil. Wir müssen mehr Demokratie wagen. Und zwar eine Demokratie, die nicht nur die Vorurteile reproduziert. Sondern Raum für das offene Gespräch schafft auch zwischen Menschen, die sich sonst nicht begegnen. Zufällig, aber repräsentativ ausgewählte BürgerInnen können in BürgerInnenräten Lösungen zu grossen, blockierten Fragen erarbeiten, die am Schluss auch an der Urne Bestand haben. Irland hat das exemplarisch vorgeführt. 2015 stimmte das irische Volk in einem Referendum der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu. Drei Jahre später legalisierte es die Abtreibung. Eigentliche gesellschaftliche Revolutionen für das traditionell streng katholische Irland. Beide gingen auf Empfehlungen der irischen BürgerInnenversammlungen zurück. Das sollten wir auch in der Schweiz wagen.

Balthasar Glättli, Nationalrat Grüne

Erschienen am 18.6.2021 als „Grüne Gedanken zur Woche“ in der linken Wochenzeitung P.S.
EIN HINWEIS: unter www.mehrdemokratiewagen.ch habe ich einen Podcast zum Thema von losbasierten Bürger*innenräten.