[Es gilt das geschriebene und das gesprochene Wort]

«Mehr Demokratie wagen» – so umriss Willi Brandt vor über 50 Jahren sein Regierungsprogramm, mit dem er auf den progressiven Aufbruch von 1968 reagierte. Willi Brandt, der Architekt der Entspannungspolitik im Kalten Krieg. Der Kalte Krieg ist Geschichte. Aber der Friede in Europa, der Friede zwischen Russland und dem «Westen», ist es seit mehr als zwei Monaten auch. Ich bin aber überzeugt: Willi Brandt hat immer noch recht: Wir müssen mehr denn je Demokratie und mehr denn je konkrete Solidarität wagen.

Liebe Gewerkschafts-Kolleg*innen,
Liebe Friedens- und Umweltaktivist*innen,
liebe Winterthurerinnen und Winterthurer

Ich freue mich, dass ich nach zwei Jahren Pandemie am «Tag der Arbeit» hier sein kann. Ich will aber nicht verschweigen, wie nachdenklich, besorgt, wütend ich bin vor dem Hintergrund dessen, was heute in Europa geschieht – und manchmal auch schlicht ratlos:
Putins Krieg verheert ein ganzes Land, verwandelt Städte in Trümmerlandschaften, reisst Tausende aus dem Leben, treibt Hunderttausende in Bunker und Millionen in die Flucht – und beraubt in Russland auch jene der Freiheit, die nur wagen, den Krieg als Krieg zu benennen.

Meine – unsere aller Gedanken sind heute auch bei den Opfern dieser unfassbaren Aggression, bei den Menschen in der Ukraine, bei den Gefangenen in Russland und bei all jenen im globalen Süden, die wegen der explodierenden Weltmarktpreisen für Nahrungsmittel noch mehr Hunger und Not leiden.
Und unsere Gedanken sind bei allen, die solidarisch sind. Seien es die Menschen hier in der Schweiz, die bereit sind, Flüchtende aufzunehmen. Seien es die Eisenbahn-Gewerkschafter in Weissrussland, welche die Nachschub von Putins Aggressionskrieg massiv behindert haben. Seien es die russischen Menschenrechts- und Friedens-Aktivistinnen und -Aktivisten, die bereit sind, ins Gefängnis zu gehen für die reine Feststellung, dass ein Krieg ein Krieg ist…

Auch für mich war dieser Krieg vor drei Monaten unvorstellbar. Und gerade als Pazifist plagt mich die Einsicht, dass Pazifismus heute nicht heissen kann, die Ukraine ohne Waffen Putin zu überlassen – auch wenn diese Waffen nicht aus der neutralen Schweiz kommen können. Dennoch bin ich mir sicher: Gerade dieser unfassbare Krieg, der unter der Drohung von Atomwaffen geführt wird, zeigt: Das Ende des Friedens darf nicht das Ende der Friedenspolitik sein. Im Gegenteil. Es muss es der Beginn sein eines neuen Nachdenkens über die Zukunft einer europäischen und globalen Friedensordnung. Nachdenken über und arbeiten an einer Zukunft ohne Atomwaffen und ohne Wettrüsten. Statt im Blindflug Kampfjets zu kaufen, ohne dass wir wirklich wissen, ob und wozu wir sie brauchen.

Nachdenken über zukünftigen Frieden…
…und gleichzeitig im Hier und Jetzt solidarisch sein.

Solidarisch mit den Opfern des Krieges, mit den Flüchtlingen, und solidarisch mit der Ukraine.
Dafür müssen wir aufhören, russisches Gas zu kaufen und mit russischem Öl zu handeln, wir müssen Putin endlich den “Geldhahn zudrehen, wie das eine Petition www.geldhahn-zudrehen.ch seit Wochen fordert.
Putin zeigt uns, wohin Autoritarismus führt. Am Ursprung des Kriegs steht das langsame Ersticken und die Zerstörung einer demokratischen Zivilgesellschaft in Russland.
Stärken wir gegen die Bedrohung des Autoritarismus die Demokratie und die Solidarität:

Für ein neues gemeinsames “Haus Europa”.
Für eine Welt, in der nicht die einen die anderen ausbeuten.
Für eine Welt, in der wir nicht alle die Umwelt ausbeuten.

Krieg, Klimakrise, Corona: Die Krisen folgen, ja multiplizieren sich und stellen uns vor gewaltige Herausforderungen.

So ist der Ausstieg aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern nicht mehr «nur» ein dringliches Gebot jeder Umweltpolitik, die diesen Namen verdient.
Der Ausstieg aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern ist auch ein Gebot der globalen Solidarität mit denen, die unter der Klimaerhitzung am meisten leiden. Und der Ausstieg aus Öl und Gas ist auch ein Gebot der Sicherheitspolitik.

Mehr Demokratie und Solidarität wagen heisst, in all unserer Vielfalt und in bunten Koalitionen über politische Lösungen zu reden, wie wir als demokratische Gesellschaft die Herausforderungen gemeinsam und sozialverträglich bewältigen können.
Mehr Demokratie und Solidarität wagen, heisst auch, mehr Rechte zu wagen und gleiche Rechte zu wagen:
Darum sagen wir im Kanton Zürich JA zum Stimmrechtsalter 16!
Darum sagen wir im Kanton Zürich JA für eine egalitäre Elternzeit!

Und auch in der Klimapolitik ist es zentral, dass wir «mehr Demokratie und Solidarität wagen».

Wir können nicht einfach jedem/ jeder von uns als Individuum die Verantwortung zur Rettung des Weltklimas zuzuschieben und gleichzeitig die Strukturen in Wirtschaft und Politik so lassen, wie sie sind. Der Kampf gegen den Klimakollaps ist eine öffentliche Aufgabe!
Warum sind der Strassenbau oder die Landesverteidigung ganz selbstverständlich öffentliche Aufgaben – und der Umbau zu einer postfossilen Gesellschaft nicht?
Warum gibt es in der Schweiz einen Fonds für Nationalstrassen – und keinen Klimafonds? Warum sollen wir auf die steigenden Energiepreise mit Giesskannen-Subventionen antworten, sodass die Züriberg-Panzer oder wie es hier in Winterthur heissen müsste – die Goldenberg-Panzer weiterhin viel zu billig fahren können? Unterstützten wir doch stattdessen Bedürftige, Geringverdienende, Mieterinnen und Mieter gezielt, bringen wir doch die Investitionen in eine grüne Zukunft endlich gemeinsam vorwärtszubringen! Das will die geplante Volksinitiative von GRÜNEN und SP: einen Klimafonds für einen sozialen Green New Deal.

Mehr Demokratie und Solidarität zu wagen, das heisst ganz konkret auch Bürger*innenbeteiligung. Zum Beispiel in ausgelosten Bürger*innenpanels, wie sie in Uster und vor wenigen Wochen in Winterthur zum Thema Klima, Ernährung und Konsum stattgefunden haben.
Vielleicht wird es in Zukunft auch «Bürger*innenpanels für mehr Frieden» geben oder eine Initiative zur Schaffung eines Friedensfonds – wir wissen es heute noch nicht, im Pulverdampf von Putins Angriffskrieg.

Aber es wird für eine neue europäische Friedensordnung,
für eine nachhaltigere (atomare) Abrüstung
eine starke Friedensbewegung brauchen,
mit euch allen, für mehr Demokratie und für mehr Solidarität.
Ich danke euch für euer Engagement!

© Renate Dürr (CC BY)