Einheitsgesellschaft gibt es nicht
Das Integrationsgesetz ist beschlossen – es war ein klassischer Kompromiss, wie die angeregte Diskussion zwischen Balthasar Glättli und Gerhard Pfister zeigt.
Balthasar Glättli: Geschätzter Kollege, am Mittwoch haben wir das Ausländergesetz hin zu einem Ausländer- und Integrationsgesetz geändert. Sind Sie zufrieden damit?
Gerhard Pfister: Wir mussten recht viele Konzessionen machen, aber selbstverständlich steht die CVP dazu, dass man Integration nicht nur allgemein fordert, sondern sie gesetzlich konkretisiert. Die beiden grössten Probleme: dass man meint, mit einem Gesetz allein die Integration schon gefördert zu haben und dass man die aktuellen Herausforderungen in der Integration, die Wertedebatte, nicht anspricht. Das liegt daran, dass dieses Gesetz im Parlament schon sehr lange diskutiert wurde. Aber jetzt ist einmal ein Schritt in die richtige Richtung gemacht.
Balthasar Glättli: Wir Grünen konnten aus einem anderen, paradoxen Grund zustimmen: wegen der Masseneinwanderungsinitiative (MEI). Nach dem 9. Februar wurde das Integrationsgesetz nämlich verbessert. Um das inländische Arbeitskräftepotenzial besser zu nutzen, wird schutzbedürftigen Geflüchteten, also vorläufig Aufgenommenen, der Weg in die Erwerbsarbeit erleichtert. Statt bürokratisch eine Bewilligung zu beantragen, müssen die Arbeitgeber nun bloss noch die Anstellung melden. Schutzbedürftige dürfen in der ganzen Schweiz Arbeit suchen. Und bei Asylsuchenden wurde diskussionslos die sogenannte Sonderabgabe auf dem Lohn gestrichen. Alles langjährige Forderungen von uns.
Gerhard Pfister: Nichts dagegen, wenn daraus kein Pull-Effekt wird, der die Schweiz attraktiver macht für Wirtschaftsmigranten. Denn das Arbeitsmarktpotenzial ist begrenzt. Die neuen Herausforderungen sind gesetzlich ohnehin schwierig zu regeln: Wenn sich Menschen hier nicht an Regeln des Zusammenlebens halten, die unterhalb des Regulierbaren bestehen. Wer einer weiblichen Lehrperson den Handschlag verweigert, verletzt kein Gesetz, aber er zeigt, dass er sich nicht zu integrieren gedenkt. Ich verstehe nicht, warum die Behörden hier nicht schon längst eine Integrationsvereinbarung mit dieser Familie fordern und, wenn diese sich weigert, die Konsequenzen ziehen.
Balthasar Glättli: Genau darum, weil ich keinen Staat will, der Regeln unterhalb des Regulierbaren dann plötzlich doch in Gesetze schreibt, war ich auch gegen Integrationsvereinbarungen mit Aufenthalts-rechtlichen Sanktionen. In einem freiheitlichen Rechtsstaat hat jeder das Recht, auch anders zu leben als andere, solange er die Gesetze einhält. Die Einheitsgesellschaft, in die man sich integrieren müsste, gibt es ja gar nicht in der Schweiz! Deutschschweizer, Romands, Tessiner, Städte, Agglo, Alpentäler, Jugendkultur und alte Traditionen, Fromme, Säkulare, Freidenker: Genau dieses Nebeneinander von Verschiedenem ist ja bereits ein Reichtum der Schweiz. Sie aber wollen irgendeine christlich-abendländische Leitkultur gesetzlich verankern?
Gerhard Pfister: Hätte man in Deutschland Anfang des Jahrtausends die Diskussion über die Leitkultur nicht tabuisiert, gäbe es heute keinen Niedergang der Volksparteien und keinen Aufstieg der extremen Parteien. In der Schweiz war die Debatte immer offener. Das von Ihnen beschriebene Nebeneinander ist eine Folge davon. Das ist aber etwas anderes als der Angriff gewisser Gruppen auf unseren Rechtsstaat, unsere Werte, wie zum Beispiel die Weigerung, eine Frau gleich zu behandeln wie einen Mann. Der Rechtsstaat ist aus der christlich-abendländischen Kultur entstanden. Wer bei uns im Namen einer Religion oder einer Ideologie dagegen opponiert, stört den Zusammenhalt oder das friedliche Nebeneinander hierzulande so massiv, dass dies nicht akzeptiert werden darf.
Balthasar Glättli: Bei der Gleichberechtigung hat gerade Ihre Konfession Nachholbedarf! Und ist die etwa nicht Teil der christlich-abendländischen Kultur? Der bürgerliche Rechtsstaat entstand eben gerade als Teil der liberal-revolutionären Überwindung alter Standesverhältnisse in Europa. Hätten Sie, Kollege Pfister, damals gelebt, hätten Sie dann die Leitkultur des christlich-abendländischen Ständestaates verteidigt? Vermutlich schon: Sie sind wirklich konservativ.
Gerhard Pfister: Ich empfehle Ihnen die Lektüre von Larry Siedentops Buch «Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt», das Ihre Annahme widerlegt. Der liberale Rechtsstaat und der moderne Säkularismus sind gerade wegen des Christentums, nicht gegen das Christentum entstanden. Sie setzen Christentum mit Kirche gleich. Zudem hat die katholische Kirche sich im Zweiten Vatikanum klar dazu bekannt, dass demokratisch beschlossene Regeln in einem Rechtsstaat für Katholiken zu gelten haben, selbst wenn sie ihren Glaubensüberzeugungen widersprechen. Davon ist der politische Islamismus weit entfernt. Deshalb stellt sich die Frage nach der Integrationsfähigkeit und -willigkeit des Islamismus in der westlichen Gesellschaft.
Balthasar Glättli: Da hätte ich wohl klüger statt von der Überwindung im Sinne Hegels von der Aufhebung der Standesverhältnisse gesprochen… In einem bin ich aber natürlich mit Ihnen einverstanden: Der Rechtsstaat gilt für alle. Selbst wenn man ihn nicht anerkennen sollte. Punkt.
Gerhard Pfister: Wenn er für alle gilt, muss man auch gegenüber allen durchsetzen, dass er für alle gilt. Das geht auch, aber nicht nur, über Integrationsvereinbarungen. In diesem Sinne: ebenfalls Konsens und finaler Punkt.
© NZZ am Sonntag; «Bei der Gleichberechtigung hat gerade Ihre Konfession Nachholbedarf!»; 18.09.2016; Ausgabe-Nr. 38; Seite 18