Besetzung der Predigerkirche
Besetzung der Predigerkirche

Als Kind stellte ich mir vor, wie eine Karte aussehen würde, auf der nur jene Teile sichtbar wären, die ich selbst, gerade eben oder auch schon Jahre her, gesehen hätte. Häufige Wege würden sich abzeichnen, verfestigen. Doch von den meisten Häusern wären nur Fassaden sichtbar. Das Innere verborgen. Und riesige Flecken blieben weiss.
Was wichtig ist und was nicht, das wird von ähnlichen Regeln der Sichtbarkeit geformt oder versteckt. Es muss geschrieben und fotografiert sein, in Büchern, Zeitschriften, Zeitungen. Und wer es nicht schafft, in diese Welt der offiziellen Buchstaben, der anerkannten Papiere einzudringen, ist unsichtbar und unwichtig. Gewissermassen papier-los.
Wenn man das in Betracht zieht, haben die Sans-Papiers, die Flüchtlinge, welche über die Weihnachtstage bis zum Samstag vor dem Dreikönigstag die Predigerkirche besetzten, etwas sehr Wichtiges geschafft. Sie befreiten sich aus der Unsichtbarkeit. Nicht dass ihr Schicksal vorher ein anderes gewesen wäre. Und ihr Alltag bleibt gleich. Vielleicht folgen sogar zur Strafe die nächsten Repressionen. Zusätzliche Schikanen halt. Wie das Verbot an die Notunterkünfte, weiter die lächerlichen kleinen Ausweiszetteli zu verteilen. Ein Papierfetzeli, zwei auf zehn Zentimeter. Drittweltqualität zwar. Aber sie dienten den Unsichtbaren, wenn sie wieder einmal mehr in eine Polizeikontrolle kamen. Um zu zeigen, dass sie wirklich eine bestimmte Unterkunft zugewiesen erhalten hatten.
Doch immerhin: Viele wissen nun, wie die «Abschreckungspolitik» in ihrer konkreten Ausgestaltung in unserem Kanton aussieht. Was Zeugnisse von Betroffenen und Berichte von Unterstützungorganisationen nicht schafften, das hat die Presse nun erreicht: Sichtbarkeit herstellen, wo viele gern wegschauen würden.
Nun ist es wichtig, diesen Kampf politisch weiter zu tragen. Aber auch die Menschen des Bleiberecht-Kollektivs ernst zu nehmen. Man kann sie einladen. Man kann sie unterstützen, indem man Migros-Gutscheine abkauft. Alles auf www.bleiberecht.ch
Und man muss sich bereits jetzt warm anziehen gegen die neusten geplanten Verschärfungen im Asylbereich. Sie sind ernst zu nehmen. Denn Bundesrätin Widmer-Schlumpf macht mit der Verschärfung auch qualitativ ernst. Sie ergänzt die unwirksame Abschreckung der „unechten“ mit der Ablehnung von echten Flüchtlingen. Wenn sie sich durchsetzt, enden noch mehr Menschen in der Trostlosigkeit der Notunterkünfte.
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Als «unsichtbar» werden auch die Differenzen kritisiert, die jedenfalls in den Augen vieler JournalistInnen im Wahlkampf um das Stadtpräsidium von den Kandidatinnen zu wenig holzschnittartig akzentuiert sind. Und es ist wohl wahr: Als sich noch Liebi und Ledergerber gegeneinander standen, da flogen an den Podien weit eher die Fetzen. Allerdings war der Kampf dort reine Unterhaltung und gestellt. Ein Wrestler-Duell. Und wie beim Wrestling stand auch der Sieger vorab fest. Liebi konnte bloss punkten, indem er ein paarmal laut mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug.
Jetzt allerdings stehen sich zwei ernsthafte KandidatInnen gegenüber. Darum wohl wagt Martelli die «bürgerliche Wende» kaum auszusprechen. Die «bürgerliche Wende», die doch Kampfruf sein müsste, Leitsatz der offiziell von ihr gewünschten Rochade: Sie selbst ins Stadtpräsidium, SVP Liebi in den Stadtrat.
Sonntagszeitungs-Kommentator Sebastian Ramspeck hat die Kritik des langweiligen Wahlkampfs wohl treffend unter dem Titel «Wie langweilig. Wie gut!» repliziert. Hat daran erinnert, dass Zürich – gerade dank der überparteilichen Zusammenarbeit der roten, grünen aber auch der freisinnigen Regierungsmitglieder, dem gelebten Kollegialprinzip im Stadtrat – sehr gut da steht. Dass Zürich viele Probleme besser gelöst hat als andere. Und dass die ganze Regierung umgekehrt die Reaktionen auf die Konsequenzen dieses Erfolgs, den Rush auf Zürich und die damit einhergehende Wohnungsnot und Mietzinsexplosion, nicht sorgfältig rechtzeitig vorbereitet hat.
Immerhin, ganz emotionslos ist der Wahlkampf ja nicht. Im Gegenteil. Er weckt die kreativen Geister. Und die machten sich Luft, in der liebevoll gestalteten Parodie unter www.corine-lauch.ch. Sooo schlecht kann eine Kampagne ja nicht sein, wenn sie zu so aufwändiger Reaktion verleitet, kann ich da nur sagen. Und: Wenn man parodiert wird, ist man offensichtlich in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen. Hoffen wir einfach, dass es nicht nur zum Beigemüse, sondern zum Hauptgang reicht.
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Auf jeden Fall im Vergleich zu den Exekutivwahlkämpfen noch wesentlich unsichtbarer ist die Auseinandersetzung ums Friedensrichteramt im Kreis 3/9. Wer nicht selbst schon mal mit dem Friedensrichter zu tun hatte, weiss selten, was eigentlich dessen Aufgabe ist: vorab nämlich zu vermitteln, Kompromisse zu entwerfen, dort, wo zwei Parteien den Ausweg alleine nicht mehr finden können aber vielleicht eine teure juristische Auseinandersetzung noch zu verhindern ist. Weil ich sein Vermittlungsgeschick in vertrackten Situationen kenne, und weil ich weiss, dass er mit einer Ausbildung zum Mediator diese Gabe auch professionell zu nutzen gelernt hat, empfehle ich hier Martin Abele zur Wahl. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es mich auch als Grüner freuen würde, wenn ein Parteikollege die Verantwortung für dieses Amt zugesprochen erhielte. Aber, um es ehrlich zu sagen: ich habe das Gefühl, dass er ganz abgesehen vom Parteibuch vor allem gut für den Job geeignet wäre. Selbst vor nicht allzu langer Zeit noch Friedensrichter-Kandidat im Kreis 4/5 muss ich offen eingestehen: Martin bringt wohl passendere Voraussetzungen für das Amt mit, als ich dies tat. Zwar ist er weniger bekannt, ist „unsichtbarer“. Aber Sichtbarkeit und politisch scharfes Profil sind für diese schlichtende Aufgabe im Hintergrund nicht das wesentliche Kriterium.