Zum Tod von Helmut Kohl
Helmut Kohls Lebenswerk fasziniert auch Balthasar Glättli. Seine Würdigung fällt aber naturgemäss etwas kritischer aus als jene von Kollege Gerhard Pfister. Die E-Mail-Debatte.
Balthasar Glättli
Geschätzter Kollege, Helmut Kohls Tod war ein Ereignis für Europa und für Deutschland. War er der letzte grosse Europäer? Ein mutiger Packer historischer Chancen, welche die wenigsten je in ihrem Leben haben? Oder ein pedantischer Machtpolitiker, der mit Elefantengedächtnis und schwarzen Kassen die CDU am Ende in die Niederlage gegen Rot-Grün führte? Oder beides?
Gerhard Pfister
Vielleicht alles von dem, was Sie erwähnen. Auch wenn seine Kanzlerschaft mit der zeitlichen Distanz nicht verklärt werden sollte: Kohl war ein Staatsmann der alten Schule, vielleicht auch der letzte Freund der Schweiz, weil er der letzte Kanzler der Bonner Republik war, die für die Einbindung Deutschlands in Europa und den Westen stand.
Er stand auch für eine bescheidene BRD, deren Hauptstadt ohne pompöse Regierungssitze auskam. Anfangs wurde er enorm unterschätzt und lächerlich gemacht von den meisten Medien. Die friedliche und gewaltlose Wiedervereinigung ist eine historische Leistung, die wohl nur wenige Politiker damals als Chance erkannten.
Balthasar Glättli
Die Bonner Republik, die Kohl repräsentiert haben soll, war der Geschichte der BRD vor ihm geschuldet. Immerhin lag die Planung für das nicht wirklich bescheidene Berliner Kanzleramt in Kohls Regierungszeit – und er wollte dort weiterregieren.
Was Kohl für mich spannend macht: Er ist nicht nur ein Beispiel dafür, dass man in einigen Lebensbereichen scheitern und in anderen Undenkbares und Historisches ermöglichen kann. Also völlig verkacheltes Privatleben – und Wiedervereinigung. Er zeigt auch, dass man im gleichen Feld, mit den gleichen Idealen doppelt Historisches vollbringen kann: Positiv mit der Wiedervereinigung und der Stärkung der EU als Friedensprojekt – und negativ mit der aus der gleichen Vision gespeisten verfrühten Einführung des Euro, die heute die Hauptursache ist für das wirtschaftliche Auseinanderdriften Europas. Von Kohl geprägte Entscheide waren Treiber für Einigung und Spaltungstendenzen zugleich.
Gerhard Pfister
Ich gebe Ihnen recht: Kohl hatte verschiedene – auch widersprüchliche – Seiten. Aber nur grosse Persönlichkeiten sind vielfältig. Glückliche Geschichtsmomente sind vielfach Konstellationen, mit den richtigen Menschen zur rechten Zeit am richtigen Ort. Die Wiedervereinigung gelang auch, weil Kohl schnell und intuitiv die Chance erkannte, die sich in diesem Zeitfenster bot. Legendär sein Zehn-Punkte-Plan, den er mit wenigen Vertrauten zu Hause entwarf und den seine Frau auf der Schreibmaschine tippte.
Zweitens war es glückliche Fügung, dass mit Gorbatschow und Bush senior zwei Staatsmänner die Grossmächte vertraten, zu denen er ein vertrauensvolles Verhältnis aufbaute und die ebenso geschickte Politiker waren. Das Momentum zu ergreifen, zu entscheiden und dann das Entschiedene konsequent und gegen alle Widerstände zu vertreten, selbst wenn es den eigenen Machtverlust bedeuten kann. Das macht grosse Staatsmänner und -frauen aus. Kohl gelang dies.
Balthasar Glättli
Auch normale Menschen sind vielfältig. Bloss schreibt sich dies, wenn man nicht an entscheidender Stelle sitzt, halt nicht in die Geschichte ein. Die Konsequenz, Macht zu wollen, Macht zu organisieren, für sich ebenso wie für ein Ideal, das war wohl ein prägendes Moment von Kohl. Auch die Bereitschaft, diese Macht zu nutzen.
Ob das eigene Scheitern dabei eingeplant war, wage ich zu bezweifeln. Höchstens als Möglichkeit. Aber es war zwingend, das hat ja Merkel beim Sturz Kohls treffend geschrieben: Wer sein Ehrenwort an illegale Parteispender über die Rechtsstaatlichkeit stellt, masst sich eine ungebührliche Rolle an. Kohl hat eine fast absolute Souveränität für sich beansprucht. Im Guten wie im Schlechten.
Gerhard Pfister
Ich will ihn da nicht entschuldigen. Aber er gehörte zu den Menschen, die auch die persönliche Beziehung, das Vertrauen als politisches Instrument einsetzten. Ein gegebenes Wort war wichtiger als eine schriftliche Vereinbarung. Er hat wohl nie ganz die berechtigte Kritik an den Parteispenden begriffen.
Was ihm bei der Wiedervereinigung nützte, die Fähigkeit zum vertrauensvollen, persönlichen Umgang mit Partnern, richtete sich gegen ihn bei der Parteispendenaffäre. Die kühle Technokratin der Macht, die ihm in der CDU nachfolgte, kann kein grösserer Gegensatz sein zu Kohl.
Balthasar Glättli
Ja – und nein. Ja, weil Angela Merkel sich nicht wie Kohl auf ein Netzwerk stützt, sondern auf die Fähigkeit, Konflikte auszusitzen und erst im für sie günstigen Moment auszutragen. Und nein, weil das dieselbe Fähigkeit ist wie die von Kohl, das Trägheitsmoment politischer Macht für Stabilisierung, aber auch für Veränderung zu nutzen.
Merkels aus der eigenen Osterfahrung geprägtes «Wir schaffen das» angesichts der Flüchtlinge – gedacht ganz klar auch als europäisches Wir – war ein ebenso historischer Moment. Viel kritisiert. Aber er läutete nicht nur den Aufstieg, sondern ebenso den Niedergang der nationalen Rechtspopulisten ein.
Gerhard Pfister
Merkels Appell war unbedacht. Sie sprach sich nicht ab mit andern Ländern, sie agierte nicht europäisch, sondern innenpolitisch medienorientiert, indem sie die Sehnsucht der Deutschen nach moralischer Anerkennung bediente, statt Realpolitik zu machen. Sie hat ihre fatale Fehleinschätzung der Lage längst erkannt und korrigiert, umso stärker, je näher der Wahltermin rückt.
Kohl hatte mehr politische Intuition, aber auch mehr realpolitischen Gestaltungswillen. Vielleicht auch stärkere politische Grundsätze. Das finde ich, wenn ich die Politik der beiden Christlichdemokraten vergleiche.