Rechtsstaatlich
Grüne Gedanken zur Woche (im P.S./ 07. Juni 2007)
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Das Recht sei zum Schutz der Schwächeren da, zitierte der bekannte Ausländerrechtler Marc Spescha anlässlich seiner Buchvernissage vor einer Woche den ehemaligen Bundesgerichtspräsidenten Giusep Nay. Und wies damit aus einer ganz bestimmten, man kann auch sagen: aus einer klar Partei nehmenden Perspektive auf die unparteiische Funktion des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit hin. Rechtsstattlichkeit ist in einer modernen Demokratie notwendig nicht nur Ergänzung sondern auch Widerpart des demokratischen Mehrheitsprinzips. Wenn man Regeln festlegt, sei dies zwischen Privaten oder auch allgemeinverbindlich als Gesetzgeber, dann müssen diese Regeln gerade auch dann gelten, wenn sie einem im konkreten Einzelfall nicht passen und man sich allenfalls lieber auf das Recht des Stärkeren verlassen hätte – oder in der Demokratie eben auf eine Volksmehrheit. Um dies zu gewährleisten gibt es im Staatswesen seit Montesquieu die Errungenschaft der Gewaltentrennung, welche heute leider immer mehr an Selbstverständlichkeit einbüsst.
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Gerade weil die Grundrechte und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit – möglicherweise auch als Effekt einer in unserer Mediengesellschaft immer rascher von Problem zu Problem, von Statement zu Statement, von Entscheid zu Entscheid hüpfenden Aufmerksamkeit – nicht mehr allzu viele Verteidiger finden, hat mich die klare Haltung der beiden Innerschweizer Finanzdirektoren in der letzten Arena durchaus beeindruckt. Der Obwaldner Finanzdirektor Hans Wallimann akzeptierte die sicher nicht einfache und für ihn unerwartete «Hausaufgabe» des Bundesgerichts, nämlich das degressive Steuersystem aufzuheben, mit einer bewundernswerten Gelassenheit und Konsequenz. Ganz anders die SVP: Sie akzeptiert den Rechtsstaat, solange die Resultate politisch passen. Trifft ein Urteil dagegen nicht ihren Geschmack, wird sofort an den Rechtsgrundlagen gerüttelt. Zugegeben: dass die SVP die Diktatur der Mehrheit fordert, verwundert weniger als das Verhalten der FDP welche – Stichwort Verbandsbeschwerderecht, aber auch Stichwort «Einbürgerungen vors Volk» – hier einen Slalomtanz in die ähnliche Richtung aufführt.
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Um «Einbürgerungen vors Volk» ging es letztlich indirekt auch gestern im Gemeinderat. Den Grünen ist – im Gegensatz zu SVP und FDP – die Übertragung der Zuständigkeit für Einbürgerungen vom Gemeinderat an den Stadtrat ein langjähriges Anliegen. Zum Zeitpunkt, da ich diese Kolumne schreibe, kann ich nur voraussehend hoffen, dass wir auch im Rat eine Mehrheit finden.
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Selbst wenn die SVP und Schweizer Demokraten dies so darstellen werden: Es geht bei diesem Geschäft keinesfalls um eine Erleichterung von Einbürgerungen. Die Einbürgerungs-Kriterien bleiben die gleichen. Aber die Anwendung der Kriterien wird vereinheitlicht und die Entscheidung – wie sich dies für einen Verwaltungsakt gehört – auch an die Exekutive delegiert. Dass das Einbürgerungsverfahren ein reiner Verwaltungsakt ist, ist nicht nur die Meinung der Grünen oder des Stadtrates. Diese Aussage beruht auf einem Urteil des Bundesgerichtes. Es geht bei Einbürgerungen lediglich darum festzustellen, ob alle Aufnahmekriterien erfüllt sind, um dann den entsprechenden Entscheid zu fällen. Der Entscheidungsspielraum ist klein und er wird mit dem neuen kantonalen Einbürgerungsgesetz in naher Zukunft noch kleiner werden. Angesichts dieser Tatsachen ist es unhaltbar, wenn über Einbürgerungsgesuche im Parlament durch Zufallsresultate entschieden wird. Es ist rechtsstaatlich unhaltbar und grenzt an Willkür, wenn gewissermassen ein Grippevirus über Einbürgerungsgesuche entscheidet.
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Neben der rechtsstaatlichen Qualität der Entscheide könnte nebenbei gesagt durchaus auch der praktische Grund der verbesserten Effizienz des Gemeinderates angeführt werden. Es ist widersinnig, dass Einbürgerungen als einzige Tätigkeit der Verwaltung im Massstab 1:1 durch den Gemeinderat nachvollzogen werden. Ähnlich absurd wäre es, wenn der Gemeinderat jedes einzelne durch den Stadtrat erteilte Baugesuch nachbehandeln würde. Dies gilt insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Zahl der Fälle, in welchen der Gemeinderat einen Einbürgerungsentscheid des Stadtrates umstösst, sich im langjährigen Durchschnitt im tiefen einstelligen Promillebereich bewegt.
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Zum Schluss aber nochmals back to the basics: «Wo die ausübende Macht nicht von der gesetzgebenden und der richtenden Macht getrennt ist und von ihnen nicht kontrolliert wird, kann die Quelle des Rechts nicht mehr Vernunft und Überlegung sein, sondern wird selbst zur Macht. (…) Eine Demokratie, die von Mehrheitsentscheidungen beherrscht, aber nicht vom Recht kontrolliert wird, ist ebenso despotisch wie eine Autokrati.» fasst Hannah Arendt in ihrem Aufsatz über das «Wesen des Totalitarismus» eine Grundhaltung zusammen, wie sie schon Kant quasi an der Wiege des modernen Staates in seiner bekannten Altersschrift «Zum ewigen Frieden» vertreten hatte.
Liberale Politiker von links bis rechts müssten sich eigentlich zusammenfinden, um diesem zentralen Grundsatz des geregelten Zusammenlebens – unbesehen aller sonstigen inhaltlichen politischen Differenzen – gemeinsam wieder zu klarem Respekt und Nachachtung zu verhelfen.
Balthasar Glättli, Ko-Präsident Grüne Kanton Zürich