«Die Neutralität der SVP ist die Neutralität des Geldsacks»

In einem grossen Interview in der NZZ vom 23.2.2023

  • erkläre ich, welche Rolle die Schweiz im Kampf gegen Putin spielen kann
  • distanziere ich mich von der „Neutralität des Geldsacks“ der SVP
  • zeige ich das immense Potential auf, welches bei der Energie-Effizienz steckt und fordere, dass nicht nur eine Offensive für Erneuerbare Energien, sondern auch eine für Energie-Effizienz gestartet wird
  • bedaure ich, dass marktliche Lösungen (zum Beispiel Stromspar-Auktionen) nicht mehr politischen Rückhalt finden
  • stelle ich klar, dass die GRÜNEN davon ausgehen, auch nach den Wahlen 2023 zur Liga der grossen Parteien zu gehören – und dass wir dann für den Bundesrt antreten sollen

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Interview: Marc Tribelhorn, Christina Neuhaus

Herr Glättli, vor einem Jahr überfiel Putin die Ukraine. Haben Sie Ihr Weltbild als Pazifist mittlerweile justiert?

Alle, die nicht blind durch die Welt gehen, hatten sehr viel zu hinterfragen. Wir müssen uns überlegen, wie wir den Aggressor Putin stoppen können. Mich irritiert aber der Verlauf der Debatte in der Schweiz. Zu Beginn sprachen wir über Sanktionen, heute wird fast nur noch über die Weitergabe von Waffen und Munition diskutiert. Dabei hätten wir mit unserem Finanz- und Rohstoffhandelsplatz zwei entscheidende Hebel. Über unser Land laufen 80 Prozent des russischen Rohstoffhandels und damit des Geldes, das Putins Krieg finanziert.

Die Grünen in Deutschland haben längst eine Kehrtwende gemacht und befürworten Waffenlieferungen: Wieso verharren Sie auf Ihrer Position?

Verharren würde heissen, dass wir uns keine Gedanken gemacht hätten. Wir haben uns sehr ernsthaft mit der Waffenfrage beschäftigt. Sie ist für uns ein moralisches Dilemma. Unsere Delegierten sind aber zum klaren Schluss gekommen, dass die Schweiz am meisten bewirkt durch den Einzug von Oligarchen-Geldern und die Regulierung des Rohstoffhandels.

Haben Sie sich nie mit den Parteikollegen jenseits der Grenze ausgetauscht?

Man wird den deutschen Grünen nicht gerecht, wenn man sie nun in das bellizistische Lager rückt. Deutschland ist zudem als Nato-Staat in einer anderen Situation. Es ist richtig, dass die Ukraine Waffen erhält, um sich gegen den Aggressor zu wehren. Da bin ich ganz bei Annalena Baerbock und Robert Habeck. Aber die Schweiz hat als militärisch neutrales Land eine andere Rolle.

Sie sitzen im gleichen Boot wie die SVP, die auch gerade furchtbar neutral ist. Stört Sie das nicht?

Mich stört diese undifferenzierte Aussage. Die Neutralität der SVP ist die Neutralität des Geldsacks. Wenn man deren hochtrabende Erklärungen genau anschaut, bleibt am Schluss nur die Feststellung: Geld stinkt nicht. Wir Grünen haben eine fundamental andere Haltung. Für uns zählt bei der Neutralität nur der Kernbereich des Militärischen. Politisch forderten wir schon zwei Tage vor Putins Einmarsch in die Ukraine strengste Sanktionen gegen Russland.

Heute fordern Sie den Einzug russischer Kriegsgewinne.

Genau. Und wir wollen die Übergewinne der Rohstoffkonzerne abschöpfen, die es ja nur wegen dieses völkerrechtswidrigen Kriegs gibt, um sie der notleidenden Ukraine zuzuführen. In anderen westlichen Staaten wird das längst debattiert, oder es wurde schon gehandelt. In diesem Bereich ist die Parteinahme der Schweiz zwingend, natürlich im Rahmen des Rechtsstaats.

Putins Angriffskrieg beschleunigt, was Jahrzehnte grüner Politik nicht geschafft haben: die Energiewende in der Schweiz, etwa den Bau riesiger Solaranlagen in den Alpen. Nur die Grünen hadern damit und enthielten sich im Parlament sogar der Stimme. Was soll das?

Die Vorlage hat problematische Aspekte aus Sicht des Naturschutzes. Man sollte Photovoltaik dort bauen, wo es schon Infrastruktur gibt. Ich habe am Schluss dennoch zugestimmt, weil wir einen begrenzten Projektrahmen schnell umsetzen können. Mir fehlt aber, dass man in Bereichen mit mehr Potenzial nicht auch in die Pedale tritt.

Zum Beispiel?

Wir Grünen wollten eine generelle Solardachpflicht für Neubauten. Das haben wir nur in abgeschwächter Form durchgebracht. Es braucht eine Offensive bei den Erneuerbaren. Aber ebenso braucht es eine Effizienz-Offensive. Dort sind wir noch nirgends. Laut einer Studie des Bundesamts für Energie werden heute 30 bis 40 Prozent unseres Stromverbrauchs in der Schweiz einfach verschwendet, das ist so viel, wie unsere AKW produzieren. Und es geht hier nicht um Verzicht. Verschwendet heisst Betrieb ohne Nutzen oder mit veralteter Technologie. Effizienz ist die günstigste und schnellste Lösung, um die Stromlücke zu schliessen.

Balthasar Glättli, der Wirtschaftspragmatiker.

Ja, Sparmassnahmen sind extrem wirtschaftlich. Ein Beispiel: Es gibt Wassersparchips, die die Durchflussmenge in der Duschbrause verringern. Ein Parteikollege von mir rechnete durch, wie teuer die Produktion und der Versand eines solchen Chips an alle Haushalte des Landes wären: sieben Millionen Franken. Als ich den Vorschlag im Parlament einbrachte, wurde er belächelt. Gleichzeitig gibt man doppelt so viel für die Energiespar-Werbekampagne aus. Glauben Sie, diese seltsamen Wärmebilder haben mehr genützt? Oder Bundesrat Parmelins Stromsparrichtlinien für Unternehmen, die an sowjetische Planwirtschaft erinnerten?

Wieso scheitern einfache Lösungen oft?

Politiker haben gerne grosse Projekte, die man bestaunen und beklatschen kann. Also stellen sie lieber Solarpanels und Windräder in die Landschaft. Effizienzgewinne sieht man hingegen nicht. Aber man merkt es im Portemonnaie. Ein anderes gutes Beispiel kommt von den Grünen aus Deutschland. Die haben das Einsparpotenzial beim Gas auktioniert: Unternehmen, die ihren Verbrauch verringern können, stellen das eingesparte Gas gegen Entgelt zur Verfügung. Das wollte ich für die Schweiz kopieren, mit Strom. Meinen Vorschlag fanden sogar der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse und die NZZ gut. Aber die bürgerlichen Parteien machten nicht mit. Deren Marktverständnis hört auf, wenn der Vorschlag von einem Grünen kommt.

Wir halten fest: Sie haben ganz viele gute Ideen und entdecken den Markt. Aber es zahlt sich nicht aus. In den Zürcher Wahlen, die als Trendbarometer für die nationalen Wahlen im Herbst gelten, haben Sie verloren. Die grüne Welle ist bereits verebbt.

Wir gingen mit einem gesunden Selbstbewusstsein in den Wahlkampf. Aber die Dringlichkeit, grün zu wählen, hat in der Bevölkerung offenbar abgenommen. Auch weil wir in den letzten Jahren viel erreicht haben. Die Verluste in Zürich sind nicht so dramatisch, wie die Medien es darstellen. Aber sie sind ein Weckruf: Die nationalen Wahlen werden kein Selbstläufer.

Gleich nach der Wahl fiel die Kritik deutlicher aus. Sie sagten: «Unser Hunger war zu klein, die Selbstzufriedenheit zu gross.»

Im Rückblick war das zu allgemein formuliert. Es gab auch Sektionen, die sich massiv anstrengten – und besser abschnitten. Die Lehre bleibt: Es braucht einen Mobilisierungs-Effort von jedem einzelnen Mitglied.

Der Mitte-Präsident Gerhard Pfister frotzelte nach der Niederlage der Grünen, dass der Erfolg der «Einthemenpartei» nicht nachhaltig sei – trotz Themenkonjunktur.

Das ist eine tolle Analyse des Präsidenten einer Keine-Themen-Partei, dessen Fraktion im Bundeshaus rechts abbiegt, wenn er links blinkt – und dann wieder umgekehrt. Aber zugestanden: Geri Pfister macht einen blendend guten Job, im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Frage der Themenkonjunktur ist doch interessant.

Natürlich. Aber ich habe Mühe bei der Interpretation. Eigentlich spricht die Themenkonjunktur für uns Grüne. Wir hatten zuerst einen Hitzesommer, und nun haben wir einen viel zu warmen Winter ohne Schnee – die Folgen des Klimawandels. Dann haben wir noch die Inflation, die genau eine Ursache hat: die Preise der fossilen Energieträger, die wegen Putins Angriffskrieg in die Höhe schnellten. Genau hier setzt die grüne Politik an: Sie will weg von der Abhängigkeit von ausländischem Öl und hin zu einer höheren Wertschöpfung im eigenen Land.

Die meisten Solarpanels stammen ebenfalls aus dem Ausland, vor allem aus China.

Ja, aber Europa hatte bereits einmal eine Solarindustrie. Die müssen wir jetzt zurückholen. Zudem: Wenn die Solaranlage einmal gebaut ist, scheint die Sonne die nächsten 20 Jahre gratis. Für das Öl hingegen zahlt die Schweiz Jahr für Jahr Milliarden von Franken. Klimapolitik bedeutet nicht nur Klimaschutz. Sie bedeutet auch mehr Selbstversorgung und weniger Unterstützung für Länder, die gegen die Menschenrechte verstossen. Die einzige Raffinerie der Schweiz wird mit libyschem Öl beliefert.

Ihre Themen haben also Konjunktur. Wie erklären Sie sich denn das mässige Abschneiden bei den letzten kantonalen Wahlen?

Jetzt muss ich auf die abgegriffenste aller Politikerausreden zurückgreifen: Wahrscheinlich gelingt es uns noch zu wenig dezidiert, zu wenig klar, zu wenig einfach, diese Zusammenhänge zu erklären. Dafür bin ich als Parteipräsident natürlich mitverantwortlich.

Kritiker sagen: Sie redeten zu kompliziert, Sie seien konfliktscheu, zu freundlich, kurz: harmlos.

Harmlos sicher nicht. Aber ich muss künftig vielleicht etwas mehr auf den Tisch hauen, wie andere Parteipräsidenten.

Die SVP hat sich bereits den Claim «Nachhaltigkeitsinitiative» gesichert, mit der sie die nächste Masseneinwanderungsinitiative labeln will. Darin spielt die Ressourcenfrage – Energie, Wasser, Bauland – eine grosse Rolle. Im Politmarketing sind Sie rechts überholt worden.

Ach, Zuwanderung und Naturschutz – diese Verbindung machte schon James Schwarzenbach. Man muss dieses Thema ernst nehmen, aber keine Sündenböcke suchen, sondern Lösungen, etwa im Bereich der Raumplanung. Da hilft die SVP nie. Und darf ich Sie weiter daran erinnern, dass die SVP vor lauter Initiativen und Referenden, die sie angeblich plant, selbst ein Ressourcenproblem hat?

Sie haben keine Angst vor der Aktivität der anderen Parteien?

Die SVP ist Ankündigungsweltmeisterin, und sie verzettelt sich. Die billigste Initiative ist die angekündigte Initiative. Man muss sie nicht schreiben, man muss keine Unterschriften sammeln, sie kann nicht abgelehnt werden, aber sie kommt dennoch in die Medien. Wir Grünen machen lieber Sachpolitik.

Dafür verkaufen Polparteien wie die SVP und die SP ihre Anliegen besser.

Da müssen wir besser werden!

Vielleicht sollten die Grünen statt immer nur mit dem Schlagwort Klima auch mehr mit Begriffen wie Arbeitsmarkt oder Swissness operieren? Ihre Partei wirkt immer noch so, als wolle sie das Weltklima und die Eisdecke in Grönland retten.

Machen wir längst. Die Energiestrategie 2050 wurde mit dem Slogan «Arbeit bleibt hier. Geld bleibt hier» beworben. Nun wollen wir einen Klimafonds – für Klima- und Biodiversitätsprojekte.

Ihre Idee eines «Green New Deal».

Genau. Wenn ich auf der Strasse Unterschriften sammle, ist das immer noch das Argument, das die Menschen am raschesten überzeugt: Investitionen ins Klima sind auch Investitionen in den Standort Schweiz. Die USA und die EU haben das längst erkannt und fördern mit strategischen Investitionsprogrammen die Schlüsselindustrien der Zukunft.

Allerdings liest man in den Medien mehr über grüne Klimaaktivisten, die sich auf den Boden kleben, als über Ihren «Green New Deal».

Das liegt, mit Verlaub, vor allem an den Medien. Ich erhalte relativ selten negative Reaktionen. Es gibt ein paar wenige, die es ganz schlimm finden. Meistens sind das aber keine Grünen-Wählerinnen oder -Wähler. Ich sage ihnen: Wenn Sie nicht wollen, dass sich Klimaaktivisten auf die Strasse kleben: Wählen Sie die Grünen! Das ist der beste und schnellste Weg zu einer kompetenten und sozialgerechten Klimapolitik.

Sie hörten den Abstimmungswerbespot der Grünen . . .

. . . Ich sage nur, wie es ist. Die Menschen, die protestieren, sei es, indem sie sich auf die Strasse kleben, oder indem sie an Fridays-for-Future-Demonstrationen teilnehmen, appellieren an die Politik, endlich zu handeln. Die wissen ja selbst, dass das Klima nicht ändert, wenn man sich wo hinklebt.

Sie haben also Sympathien für die Klimakleber?

Verständnis, ja. Mühe habe ich, wenn versucht wird, nur mit dem Mittel der Angst zu arbeiten. Von Greta Thunberg stammt der berühmte Satz: «I want you to panic.» Aber sie ist mittlerweile davon weggekommen. Wir sollten viel mehr über Lösungen reden. Denn es gibt Lösungen. Sehr gute sogar.

Wie steht es eigentlich um die grünen Bundesratsambitionen nach dem Dämpfer von Zürich?

Unser Ziel lautet: Wir wollen im nächsten Herbst zur drittgrössten politischen Kraft werden. Danach stellen wir den Anspruch auf einen Sitz: Wir wollen Verantwortung übernehmen.

Angenommen, Alain Berset und Ignazio Cassis verzichten im Herbst auf eine erneute Kandidatur: Treten die Grünen dann an – oder machen sie weiter «Opposition für Erwachsene», wie Sie es mal nannten?

Ich habe mir vorgenommen, keine hypothetischen Fragen zu beantworten. Ich halte nichts davon, das Fell des Bären zu verteilen, bevor er erlegt ist.

Was hindert Sie denn daran zu sagen: Wenn wir unsere 13 Prozent Wähleranteil halten oder sogar ausbauen, kandidieren wir selbstverständlich für einen Bundesratssitz?

Nichts. Ich habe schon mehrfach gesagt, dass wir einen Bundesratssitz anstreben, wenn wir weiterhin in der Liga spielen, wo wir jetzt sind.

Wenn man mit Ihnen über die Bundesratsfrage redet, tönt es immer viel defensiver als bei Aline Trede, der Fraktionschefin der Grünen. Spielen Sie «good cop, bad cop», oder sind Sie sich einfach nie einig?

Wir haben eine sehr gute Zusammenarbeit. Das wird Ihnen auch Frau Trede bestätigen.