Die Welt ist 2015 aus den Fugen geraten, weil es noch immer zu viel Nationalstaat gibt, meint Balthasar Glättli. Das Gegenteil trifft zu, findet Gerhard Pfister.
Balthasar Glättli: Geschätzter Kollege! Die Globalisierung ist unaufhaltbar. Der Nationalismus und die kriegerischen Auseinandersetzungen sind schon allein wegen der wirtschaftlichen Verflechtungen überwunden – das glaubten viele, damals in der Zeit der ersten Globalisierung am Ende des 19. Jahrhunderts. Dann brach 1914 der Erste Weltkrieg aus. Bin ich zu pessimistisch, wenn ich mir im Rückblick auf 2015 die Frage stelle, ob sich eine solche Entwicklung mutatis mutandis nicht auch heute wiederholen könnte?
Gerhard Pfister: Das sind überraschende Töne für einen fortschrittsgläubigen Linken! Wenn ich diese Tonalität anschlage, wird mir jeweils neokonservative Untergangsrhetorik vorgeworfen von den linksliberalen Medien. Aber ich stimme Ihnen, ungern, zu: 2015 war ein Jahr, in dem die mühsam übertünchten Schwachstellen internationaler Politik aufbrachen. Seit 1989, als man den Sieg des westlichen Lebensmodells über den Sozialismus erlebte, hat der Westen eigentlich wenig mehr getan als eine ausgiebige Party nach der andern gefeiert, die 2015 definitiv zu Ende ging.
Balthasar Glättli: Der Sieg war vielleicht nicht nur der eigenen Überlegenheit des Kapitalismus geschuldet. Sondern eher dem Scheitern eines untauglichen Gegenmodells, das seine eigenen Ideale schon lange verraten hatte. Aus eigener Kraft schaffte es der Neoliberalismus offensichtlich nicht, sich zu einem weltverträglichen und tragfähigen System umzubauen. Und die altermondialistes am Anfang des Jahrtausends hatten zwar viele kleine Erfolge – aber den nötigen grossen bei weitem nicht. Im Gegenteil: Auch linke Visionen orientieren sich heute zu oft an nationalstaatlichen Grenzen.
Gerhard Pfister: Unterschätzen Sie nicht den positiven Wert der Rückbesinnung auf Nationales, auf Identität, auf Kultur. Globalisierung bedeutet nicht, dass Heimat unnötig wird, im Gegenteil, vermutlich war das der Grundlagenirrtum des Westens nach 1989. Aber auch die linken Visionen einer Überwindung nationalstaatlicher Grenzen unterschätzen – wie die meisten politischen Visionen – die menschliche Natur und deren Bedürfnis nach Verwurzelung. Woran machen Sie konkret die Analogie von 2015 zu 1914 fest?
Balthasar Glättli: Vernetzung des Welthandels, weltumspannende Kommunikation und Transporte, globale Arbeitsteilung, Kriege in Afrika und Asien – aber Ruhe in Europa und Nordamerika, erstaunlicher technischer Fortschritt und steigende Produktivität… so könnte man analog die Situation Anfang des 20. Jahrhunderts und heute beschreiben. Sollte damals der Telegraf nicht nur die globale Wirtschaft optimieren, sondern auch Verständnis schaffen über alle Grenzen hinweg, so fällt diese Rolle heute dem Internet zu. Doch statt Optimismus begleiten mich politische Sorgen ins neue Jahr: über den Aufstieg der Rechten in vielen europäischen Ländern wie auch der Schweiz – Spanien und Griechenland sind teilweise Ausnahmen – und den Spitzenreiter in den Umfragen der Republikaner in den USA, Donald Trump, der einen bloss den Kopf schütteln lässt. Doch, ich glaube weiter an die Möglichkeit, die Welt zum Guten zu verändern! Aber ihre Wahrscheinlichkeit ist kleiner geworden.
Gerhard Pfister: So pessimistisch bin ich nicht. Immerhin hat die Zahl der Ärmsten abgenommen, und der Wohlstand in Asien ist auch deshalb gestiegen, weil dort der Welthandel als Chance begriffen wurde. Dass rechte Bewegungen Zulauf erhalten oder eine Karikatur wie Trump hohe Umfragewerte erzielen, ist auch dem Versagen des Politestablishments zuzuschreiben, das es nicht mehr schafft, berechtigte Sorgen und Ängste in der Bevölkerung so aufzugreifen, dass man Vertrauen in die Politik hat. In vielen Regierungen sitzen Verwalter, keine Staatsleute, genau wie in der Wirtschaft immer weniger Unternehmer, dafür immer mehr Manager den Ton angeben. Wenn eine grosse Zahl der republikanischen Wählerbasis Donald Trump vertraut, sagt das mehr über den Zustand der Politik in den USA aus als über Trump selbst. Wenn in Frankreich jahrelang behauptet wird, man habe kein Problem mit der Migration oder die Wirtschaft sei auf Kurs, muss man sich nicht wundern, wenn diejenigen Zulauf haben, die das infrage stellen. Auch wenn man über die Heftigkeit der politischen Debatten, die Übertreibungen in den Abstimmungskämpfen oder über gewisse Initiativen hierzulande die Nase rümpfen mag: Der offene freie Diskurs darüber verhindert, dass sich wie andernorts Frustration anstaut. Pegida ist eine Folge der tabuisierten Debattenkultur in Deutschland.
Balthasar Glättli: Nun sind also die Ausländer an der Fremdenfeindlichkeit schuld? Das ist aber nicht der staatsmännische Diskurs, den Sie einfordern! Ängste ernst zu nehmen, heisst nicht, Vorurteile nachzusprechen. Da hätte ich von Ihnen gerade als möglichem künftigen Präsidenten einer Partei, die das C im Namen führt, mehr erwartet: nämlich das überzeugte Einstehen für Werte wie Respekt, Gastfreundschaft und Menschlichkeit. Dass wer dafür einsteht, als Gutmensch beschimpft wird, scheint mir die grösste Gefahr.
Gerhard Pfister: Das ist eine Unterstellung! Die Menschenwürde politisch ernst nehmen heisst, die Welt so zu gestalten, dass allen Menschen ein Leben in Freiheit und Sicherheit möglich wird. Das heisst auch, Pflichten einfordern zu können, und zwar von allen, damit Extremismus keine Chance hat. Gerade das Verdrängen von berechtigten Ängsten und Sorgen durch die Politik führt zu einer Radikalisierung, die niemand will.
Quelle: NZZ am Sonntag, 27.12.2015