(c) by nutmeg66@flickr
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«Es wurde alles rascher, damit mehr Zeit ist. Es ist immer weniger Zeit.» Diesen Leitspruch Elias Canettis stellte ich vor über zehn Jahren auf meine Homepage. Allerdings verhält es sich mit meiner persönlichen Sehnsucht nach der verloren gegangenen Musse gleich wie bei aller romantischer Sehnsucht: Es ist der Traum von etwas Vergangenem, das gar nie so gewesene ist – war ich doch selbst in meiner Vergangenheit kaum je Opfer der Geschwindigkeit, sondern eher einer jener, die sie mit beschleunigt hat, zumindest immer schneller mitgegangen ist.
Natürlich ist die Geschwindigkeit ist ein Merkmal unserer Zeit. Wenn wir Globalisierung sagen – kritisch oder befürwortend – so denken wir zwar zuerst an das Verschwinden örtlicher Distanzen. Doch dies ist bloss eine andere Perspektive auf die gleiche Gegebenheit, eben der höheren Geschwindigkeit.
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Diese Entwicklung beeinflusste nicht nur den Transport der Güter und die Migration der Menschen. Auch der Informationsfluss wurde um ein Vielfaches beschleunigt. Seit der digitalen Revolution und der Omnipräsenz des Internets zumindest in den industrialisierten Ländern ist es möglich, Informationen quasi auf den Moment hin unendlich zu vervielfältigen und sofort zu verbreiten. Genutzt haben dies nicht nur die Mächtigen. Auch Bewegungen von unten bauen heute selbstverständlich auf die Vorteile der drahtlosen Kommunikation, der Social Networks, der Möglichkeiten, selbst kostengünstig für ein globales Publikum die eigene Sicht auf  aktuelle Ereignisse zu publizieren. Darum wäre es vollkommen verkehrt, wenn ich nun meine Kritik der Kurzatmigkeit der Politik mit einer Medienschelte garnieren würde. Steht es doch uns PolitikerInnen frei, in welcher Kadenz wir auf «News» reagieren, in welcher Hast wir selbst «News» produzieren zu müssen meinen. Es ist wohl keine spezifische Frage der Medien sondern je der einzelnen Menschen, mit welcher «Geschwindigkeit» wer wie gut zu Recht kommt.
Um diese Entwicklung der letzten Jahrzehnte überhaupt erst greifbar zu erfahren und ins Konkrete übersetzen zu können hilft möglicherweise ein kurzer Blick zurück: mit wie wenig Informationen, wie langsam kommunizierend haben noch vor weniger als siebzig Jahren Staatenlenker ihre Entscheidungen getroffen? Und dies in äusserst kritischen Situationen, in Zeiten des Krieges? Ein lebendiges Bild davon kann sich machen, wer beispielsweise Churchills Autobiographie liest.
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Dabei behaupte ich nicht, dass all die heutige Beschleunigung nur Schlechtes hat. Ich will keine neue Drohfingergeschichte erzählen wie damals die Eisenbahnkritiker, die behaupteten, dass die Milch der Kühe sauer würde beim blossen Anblick der vorüberfliegenden fauchenden Dampflokomotiven und der Geist der Menschen irr. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass diese Entwicklung aus etwas Distanz betrachtet viel tiefgreifender ist, als wir das in ihr selbst gefangen wahrnehmen. So wäre es möglicherweise sinnvoll, gerade als politisch bewusste Menschen, und gerade im Moment eines historischen Bruchs, dessen Bedeutung wir zwar noch nicht einordnen können, aber dessen drohende Grösse wir doch irgendwie spüren, einen Schritt zurück zu machen.
Möglicherweise würden wir – bei diesem Time-Out – bemerken, dass uns nicht nur die Zeit zum Nachdenken fehlt. Nein, es fehlt uns vor allem auch die Zeit zum Vorausdenken. Denn es wäre ein schwerwiegender Fehler zu meinen, wenn man immer schneller reagiere, könne man immer weiter und eines Tages gar in die Zukunft greifen. Das Gegenteil ist wohl der Fall: die Reichweite unserer Handlungen wird immer kleiner, je hastiger, je rascher, je unreflektierter sie erfolgen. Wer bloss reagiert, wird nicht über die Beschränktheit des Vorgegebenen hinaus greifen können. Und wenn wir die Möglichkeit eines echten politischen Paradigmawechsels auch bloss annehmen oder erahnen können, so ist doch eines klar: mit reiner «Reaktion», und sei sie noch so rasch, könnten wir diese historische Gelegenheit nie ergreifen. Es gälte wohl, sie aktiv zu gestalten, zu formen, und so erst zu realisieren.
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Da wir uns aber die Zeit zum Nach- und Vorausdenken nicht nehmen, bleibt auch die Kritik an der aktuellen Krise eine oberflächliche. Selbstverständlich bin auch ich ein Vertreter eines «Green New Deal». Bin auch ich dafür, dass die Politik heute mit Investitionen Arbeitsplätze schafft. Und zwar Arbeitsplätze, die uns helfen, die Zukunft besser zu bewältigen – statt mit ihren Produkten neue Probleme zu schaffen. Dennoch vermisse ich in der aktuellen Situation eine zumindest leise Stimme der Wachstumskritik. Das olympische «citius, altius, fortius» prägt einsam die Debatte. Schneller, höher, stärker – und grüner. Ist das die einzige Antwort, die wir Grünen darauf zu geben haben, dass eineinhalb Jahrzehnte «Wachstum» sich innert weniger Monate vor unseren Augen in Luft aufgelöst haben? Ein grünes «more of the same»?
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Die Verunsicherung ist gross. Paradoxerweise führt sie links wie rechts zu einem neuen Vertrauen in die Institution des Staates – aber nicht mehr als Vertrauen in die Politik, sondern faktisch als Vertrauen in die Bürokratie. Denn gerade die Politik hat sich in vielem als handlungsunwillig erwiesen. Hat freiwillig ihre Entscheidungsspielräume weiter delegiert, an eine vermeintlich besser sich selbst regulierende Sphäre der Wirtschaft. Falsch gedacht ist darum auch eine simple Gegenbewegung, die schlicht die «Politik» gegenüber der «Wirtschaft» stärken möchte. Was es wenn schon bräuchte, wäre eine neue politische Ökonomie.
Und ein neues grundlegendes Misstrauen gegen den Staat von links. Darum füllen Sie den Stimmzettel für den 17. April noch nicht aus und lesen sie erst Bastien Girods kritische Bemerkungen zum biometrischen Pass. Im nächsten P.S., in einer Woche.