«Grün statt grau. Besser statt mehr.»
Kurzinterview zu 40 Jahre GRÜNE Schweiz
Am 13. Mai feiern die GRÜNEN Schweiz den 40ten Geburtstag. Aus diesem Anlass fragte mich Nicole Soland von der Zürcher Wochenzeitung P.S.: „Was habt ihr GRÜNEN erreicht? Und wo wollt ihr hin?“
Nicole Soland, P.S.: Nach Tschernobyl 1986 oder Fukushima 2011 waren alle Parteien «immer schon grün gewesen» (allen voran natürlich die FDP…). Dann verging Zeit, die anderen Parteien hatten bald wieder andere Sorgen. Dennoch sind die Grünen heute keine 20- oder mehr-Prozent-Partei: Woran liegt das?
Balthasar Glättli: Seitdem ich 1991 den Grünen beigetreten bin, habe ich eine riesige Entwicklung erlebt. Viele grüne Ideen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und zwar nicht nur im Bereich des Umweltschutzes, sondern auch im Bereich einer emanzipierten und freien Gesellschaft. Oft mussten wir Grüne mehrere Anläufe nehmen. Mit der Zeit fanden wir Allianzpartner. Und am Schluss auch Mehrheiten. So war die Energiestrategie 2050 ursprünglich ein Gegenvorschlag zur grünen Atomausstiegsinitiative. In dieser Frühlingssession brachten wir ein Gesetz zur Kreislaufwirtschaft durch den Nationalrat, das viele Elemente unserer Initiative für eine grüne Wirtschaft nun umsetzt. Und die Ehe für alle, welche Ruth Genner als erste in Bundesbern verlangte, wurde zwei Jahrzehnte später an der Urne klar angenommen. Was mich aber immer noch schockiert: Viele Firmen und auch Konzerne sind heute, was Klimaschutz und Biodiversität betrifft, viel weiter als die sogenannten Wirtschaftsvertreter:innen von Mitte-Rechts. Die bürgerliche Politik ist oft viel weniger weit als Gesellschaft und Wirtschaft .
Was müssen die Grünen tun, um ihre Ideen künftig nachhaltiger unter die Leute zu bringen und zumindest für die nötigsten Massnahmen (z.B. Reduktion des CO2-Ausstosses auch beim Verkehr) Mehrheiten zu schaff en?
Ich glaube an den radikalen Realismus. Politik ist nicht nur die Kunst des Möglichen. Politik muss immer auch die Kunst sein, das Undenkbare denkbar und das Denkbare möglich zu machen. Darum sollen wir Grüne auch radikale Vorschläge machen – im ursprünglichen Sinne des Wortes Radix (Wurzel): die Wurzeln der Probleme anpacken. Also nicht schon mit dem Kompromiss in die Verhandlung einsteigen. Denn die Herausforderung der Klimakrise ist immens, ebenso die Krise der Biodiversität. Darum darf sich z.B. die Verkehrswende nicht darin erschöpfen, den Stau zu elektrifizieren. Züribergpanzer mit Elektromotoren sind nicht die Lösung für den Stadtverkehr. Gleichzeitig sind wir aber bereit, die Hand zu geben für Lösungen, die in eine richtige Richtung gehen – auch wenn die Geschwindigkeit noch nicht stimmt. Auch die grösste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Darum sind wir überzeugt für das Klimaschutzgesetz: Obwohl es rasch noch weitere Schritte braucht, um tatsächlich eine Klimakatastrophe abzuwenden.
Wo sehen Sie die Grünen in 40 Jahren? Und wie gelangen sie dorthin?
Wir Grünen sind selbstverständlich Bundesratspartei und stellen in verschiedenen Kantonen Mitglieder in rot-grünen Regierungsmehrheiten – so wie wir dies heute in vielen Städten tun. Gleichzeitig sind wir eine Bewegung geblieben, die der Gesellschaft unangenehme Fragen stellt – und daran arbeitet, dass eine andere Welt möglich wird. Wir haben unsere Wegwerfgesellschaft transformiert hin zum guten Leben. Nach dem Motto: Grün statt grau. Besser statt mehr. Dahin kommen wir, wenn wir es wagen, noch unangenehmer zu werden – aber kompetent zu bleiben. Wir müssen fähig werden, häufiger die direktdemokratischen Instrumente zu nutzen. In der Schweiz werden jene Parteien mit an die Macht gelassen, die bewiesen haben, dass sie willens sind, auch Nein zu sagen, wenn man ihre Vorschläge nicht ernst nimmt.
* Das Interview wurde schriftlich geführt, die Fragen stellte Nicole Soland.