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Arbeitszeitverkürzung ja: aber ökologisch!

«Die Vier-Tage-Woche kommt in die Schweiz», titelte im Juni 2022 der SonntagsBlick. Das Thema Arbeitszeitverkürzung ist auch in der Schweiz wieder präsent – und das ist gut so. Oft ist der Fokus dabei jedoch recht eng und die Gefahr besteht, dass für die Arbeitenden nicht mehr Zeitwohlstand, sondern mehr Stress resultiert und die Konsumgesellschaft weiter angekurbelt wird. Ich möchte das Thema grundsätzlicher angehen und sehe die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit als wichtigen Teil einer ökologisch-sozialen Transformation, die sich am Grundsatz der Suffizienz orientiert.

  • Im Mai 2023 habe ich sogar einen „Rostigen Paragraphen“ erhalten von der rechtsbürgerlichen IG-Freiheit, für mein Postulat, das einen Bericht fordert darüber, wie eine Arbeitszeitverkürzung sozial gerecht den Klimaschutz stärken könnte. Eine gute Erwiderung dazu von der Unternehmerin Marie Tuil findet sich bei bajour.ch.
  • Im europäischen Vergleich arbeiten wir in der Schweiz mit 42 Arbeitsstunden pro Woche deutlich länger als der Schnitt mit 39,1 Stunden. Die Wochenarbeitszeit ist nur in Montenegro, in der Türkei und in Serbien noch höher. 
  • Eine Studie von Sotomo im Auftrag des Vereins Geschlechtergerechter zeigt: mehr als zwei Drittel der Schweizerinnen und Schweizer sind auch der Meinung, dass hierzulande zu viel gearbeitet wird (hier die Studie als PDF)
Wir müssen aus dem Hamsterrad von Produktivitätsfortschritt und Konsumismus rauskommen, ein neues Verständnis von Erwerbsarbeit entwickeln, Care-Arbeit gerechter verteilen.
Balthasar Glättli, Präsident GRÜNE Schweiz

Im Juni 2022 forderte ich vom Bundesrat, in einem Bericht darzulegen, welchen Beitrag eine generelle Reduktion der Erwerbsarbeitszeit zur Erreichung der Klimaziele und für mehr soziale Gerechtigkeit leisten könnteMeine Gedanken zum Thema habe ich letzten April auch in einem Artikel der «Denknetz»-Zeitung zum Ausdruck gebracht.

Hier ist der Text:

Wer kennt sie nicht, die Geschichte vom Fischer, der am Nachmittag in seinem Boot döst, bis er von einem Touristen geweckt wird, der ihn als Bild des «Dolce far niente» fotografiert. Der Fremde redet sich in Eifer und schlägt vor, wie der Fischer mit häufigeren Fahrten ein wachsendes Geschäft machen, ja eine ganze Fangbootflotte kaufen könnte: «Und dann … dann», schliesst er begeistert, «dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.» – «Aber das tu’ ich ja schon jetzt», entgegnet der Fischer.

Heinrich Böll schrieb seine «Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral» für eine Radiosendung zum Tag der Arbeit 1963. Der Text passte so gar nicht zur Stimmung der Wirtschaftswunderjahre – und nahm eine Debatte vorweg, die mit dem Aufkommen der ökologischen Kritik am unbegrenzten Wirtschaftswachstum breiter wurde: «Eine normale Wochenarbeitszeit von 21 Stunden könnte dazu beitragen, eine Reihe dringender, miteinander verbundener Probleme zu lösen: Überarbeitung, Arbeitslosigkeit, übermässiger Konsum, hohe Kohlendioxidemissionen, geringes Wohlbefinden, verfestigte Ungleichheiten und der Mangel an Zeit, um nachhaltig zu leben, sich umeinander zu kümmern und einfach das Leben zu geniessen» – so fassten Autor:innen der New Economics Foundation 2010 ihr Plädoyer für eine wesentlich kürzere Arbeitswoche zusammen. Ein Plädoyer, das Arbeitszeitreduktion als Element eines umfassenden ökologischen und sozialen Projekts versteht. Effizienzgewinne infolge steigender Produktivität in Form von mehr Zeit weiterzugeben ist zwar grundsätzlich egalitärer als Lohnsteigerungen: Auch der Topmanager verfügt nur über 24 Stunden am Tag, während seinen Boni offensichtlich keine Grenzen gesetzt sind. In letzter Zeit hat die Debatte um die Arbeitszeitreduktion auch wieder an Fahrt gewonnen, und einige Firmen haben die Viertagewoche eingeführt. Der Fokus bleibt jedoch eng und folgt der Formel «Die Effizienz steigt, die Arbeitszeit sinkt, der Lohn bleibt gleich». Gleich viel Geld und mehr Zeit für mehr Konsum? Im schlimmsten Falle: ja. Als isolierte Massnahme in gut bezahlten Branchen verliert die Idee der Arbeitszeitverkürzung nicht nur einen Teil des emanzipatorischen Potenzials, sondern auch jegliche ökologische Perspektive – keine Option vor dem Hintergrund des drohenden Klimakollapses. Als zentrales Element eines umfassenden ökologischen und sozialen Umbaus kann eine wesentlich geringere neue Normalarbeitszeit dagegen Risse im «stahlharten Gehäuse des Konsumismus» (so nennt es Tim Jackson) hervorrufen und mithelfen, aus dem Hamsterrad von Produktivitätsfortschritt und Befriedigung künstlich geschaffener Konsumbedürfnisse auszusteigen. Wie der Klimastreik in seinem Climate Action Plan richtig schreibt, müssen wir dazu auch unser Verständnis von Lohnarbeit, Care-Arbeit und Freizeit grundlegend infrage stellen. Wir müssen die Deckelung des Konsums mitdenken und auch unbequeme Fragen stellen: Was ist eine gerechte(re) Verteilung der Effizienzgewinne durch den Produktivitätsfortschritt? Wie kann Care-Arbeit gerecht(er) verteilt werden? Und wie Jobs, die eigentlich niemand machen möchte? Braucht es neben einem Minimallohn auch einen Maximallohn? Oder gar Konzepte einer bedingungslosen würdigen Grundsicherung oder ein «Revenu de Transition écologique»? Eine breite Debatte über diese Fragen könnte eine gesellschaftliche Entwicklung anstossen, an deren Ende wir alle der protestantischen Ethik des Kapitalismus «mehr Genuss, mehr Faulheit, mehr Schlendrian» entgegensetzen – so wie der glückliche «faule» Fischer von Heinrich Böll.

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