Balthasar:
Meine lieben Damen und Herren,
Geschätzte Frau Gemeindepräsidentin Ursula Moor,
Liebes Organisationskomitee von Pro Höri,

Es ist eine grosse Freude und eine grosse Ehre, für Sie diese 1. August-Rede halten zu dürfen. Es ist dies meine dritte, und dennoch ist es für mich keine Routine. Ich konnte keine Standart-Erstaugustrede aus dem Köcher ziehen, aber dass ich etwas Neues versuchen muss, ist auch ihr Glück. Denn meine erste Rede, die ich 1998 als 26-jähriger in Greifensee hielt, war ebenso hochtrabend wie unverständlich… Ich hoffe, dass ich zumindest punkto Verständlichkeit in den letzten 20 Jahren zugelegt habe!

Diese heutige Rede ist auch ein Wagnis. Nicht nur, weil wir, Min Lin Marti und ich, unsere erste gemeinsame Rede halten; sondern auch, weil wir beide wissen, dass unsere Parteien, die SP und die Grünen, in Höri, nicht gerade top mehrheitsfähig sind, auch zusammengerechnet nicht… Wir sind also auch als Doppelpack vermutlich nicht das, was man unter einem konventionellen „1.August-Topact“ versteht – wir hoffen drum einfach, Ihnen einige Denkanstösse zum Nationalfeiertag geben zu können!

Min Li:
Für mich ist es die erste 1. August-Rede. Bei der 1. August-Rede geht es ja auch darum, über die Schweiz nachzudenken, und über mein eigenes Verhältnis zur Schweiz. Ich halte mich nicht für sehr patriotisch – ausser beim Sport natürlich, da fane ich für die Schweizer Nati und unsere Olympioniken! Das Konzept der Vaterlandsliebe dagegen sagt mir wenig. Ich bin nicht stolz darauf Schweizerin zu sein, warum denn auch: Es ist ein Zufall, dass ich hier geboren und aufgewachsen bin und nicht anderswo. Bewusst ist mir dagegen, dass es ein grosses Privileg ist, hier in der Schweiz zu leben und nicht anderswo. Beispielsweise in China, dem Land, aus dem meine Mutter und ihre Familie vor Jahrzehnten geflüchtet sind.

Darum habe ich mich auch sehr gewundert, als Frau Martullo-Blocher in einem Interview letzte Woche sagte, dass China zwar nicht grad ein Vorbild für Menschenrechte und Demokratie sei, dafür aber eine kompetente Exekutive habe, und dass eine solche Regierung eben dem Volk viel mehr bringe, da sie ihm nichts versprechen müsse – vermutlich vor allem nicht rechenschaftspflichtig ist – und daher langfristig denken könne…

Es geht mir hier nicht um ein Blocher-Bashing, ich rede von der Tochter, nicht vom Vater! Und Frau Martullo-Blocher ist nicht die einzige, die so denkt. Viele Wirtschaftsführer, Ökonominnen, Politiker und Intellektuelle sind voller Bewunderung für China, gerade seitdem dort recht viel Kapitalismus die Diktatur ausschmückt. Viele vertreten die These, dass eine Diktatur letztlich besser ist für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung. China ist nicht das einzige Beispiel für diese Haltung: auch bei Singapur, Taiwan, Südkorea, Chile usw. wurden ähnliche Stimmen laut.

Früher, als noch der sogenannt „Realexistierende Sozialismus“ im Osten drohte, war hier im Westen und auch in der Schweiz klar: Demokratie und eine soziale Marktwirtschaft gehören zusammen. Und nach dem Fall der Berliner Mauer, 1989, am Ende des Kalten Kriegs, da jubelte in Amerika der Intellektuelle Francis Fukuyama und prägte das geflügelte Wort vom “Ende der Geschichte”: Nun würden sich Grundrechte, Demokratie und Marktwirtschaft überall durchsetzen, und damit Freiheit und Wohlstand für alle, Hand in Hand, unaufhaltbar.

Gut zwei Jahrzehnte später schaut die Bilanz durchzogen aus: Ja, in vielen Ländern ist tatsächlich die Demokratisierung weiter fortgeschritten, in Süd- und Mittelamerika und auch in gewissen Ländern Asiens. Und der arabische Frühling hat Hoffnungen geweckt, auch wenn wir momentan mehr von Problemen hören und bei Syrien gar vom Bürgerkrieg. Eins sehen wir schon jetzt: Der Wohlstand ist in vielen der demokratisierten Länder nicht ausgebrochen. Demokratie bringt also nicht automatisch Wohlstand!
Und umgekehrt – das Beispiel Chinas zeigt das erschreckend klar – ist es leider auch kein Naturgesetz, dass mit mehr Marktwirtschaft auch die Demokratisierung vorangeht. Wer mit China nur Geschäfte machen will, für den oder die mag das egal oder sogar wünschenswert sein – wie wir vorher gesehen haben. Aber für die Menschen, die in China leben sind die Missachtung der Menschenrechte und die Einschränkung der Meinungsfreiheit , die gigantische Umweltverschmutzung und die wachsende Ungleichheit keine Perspektive – und ich finde, für uns sollten sie das auch nicht sein.

Balthasar:
Eins ist klar: Statt dem „Ende der Geschichte“ von Fukuyama, statt der versprochene wohligen Ruhe erleben wir heute unruhig bewegte Zeiten. Überall Krisen und Unsicherheit. In China, da machen uns die Nebenwirkungen des Wirtschaftswunders Angst: Ressourcenhunger, Ressourcenverschleiss, Umweltverschmutzung. Und in den allermeisten andern Industriestaaten sorgen wir uns wegen der Wirtschaftskrise. Nur die Schweiz scheint weitab zu stehen, grossteils verschont: „Eine Insel der Seligen“ im Sturm? Natürlich, das Bild der Insel ist altbekannt: schon als Schüler habe ich gelernt, wie die Schweiz auch in den Weltkriegen mehr oder weniger verschont wurde. Und lernte erst später, dass dies nicht die ganze Geschichte der Schweiz gewesen ist.
Aber heute sehen wir doch wieder das vertraute Bild: sehen vom sicheren Ufer aus den Sturm um uns, Europa zum Teil in tiefer Rezession, Griechenland, Spanien, Italien, Portugal taumeln… Und wir? Das Einzige, was fast allen von rechts bis links wirklich Sorge macht auf unserer Insel ist gerade unsere Stabilität und Attraktivität. Wir sind attraktiv für Menschen, die eine Arbeit und eine Zukunft suchen – und attraktiv für die Riesenmengen von Finanzkapital. Die Kapitalflucht aber führt zum allzu starken Franken, mit allen negativen Folgen für die Exportwirtschaft und unsere Arbeitsplätze…
Ist unsere Attraktivität das einzige, worum wir uns sorgen müssen? Haben wir einfach Glück gehabt auf unserer Insel der Seligen? Oder machen wir es besser als die andern? Haben wir die bessere Wirtschaft, die tüchtigeren Angestellten, oder gar ein besseres politisches System?

Min Li:
Ich war und bin immer noch nicht der grösste Fan des schweizerischen direktdemokratischen Systems und der Konkordanz. Vieles erscheint mir dadurch zu langsam, es wird zu sehr verwässert, es geht nicht voran – ja ich gebe es zu, da schlummert auch etwas Martullo-Blocher in mir. Doch die direkte Demokratie, die Konkordanz, unser System der Langsamkeit und des Ausgleichs hat auch sehr viel Gutes und sie hat uns vor allem vor den schlimmsten Exzessen verschont.

Balthasar und ich streiten uns oft über den Fortschritt – gibt es überhaupt einen Fortschritt in der Geschichte? Und wenn ja, ist es überhaupt etwas Gutes? Als Optimistin, die ich immer noch bin, habe ich immer noch die Hoffnung, dass die Menschheit, sich zum Guten und zum Besseren bewegt – oder es zumindest will oder es könnte.

Balthasar:
Und ich befürchte, dass unsere Vorstellung vom Fortschritt zu eindimensional ist: Immer mehr und haben – immer mehr und mehr verschwenden? Wachstum à tout prix – das kann nicht gut gehen!

Min Li:
Du musst aber zugeben: In der Zeit zwischen dem zweiten Weltkrieg und den 1970er Jahren waren goldene Jahre. In dieser langen Periode bedeutete das wirtschaftliche Wachstum mehr Wohlstand für alle. Damals war für die meisten klar, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen wird, dass sie ein höheres Einkommen haben werden, ein grösseres Haus, eine sicherere Zukunft.

Heute ist das viel weniger klar. In den USA ist es natürlich am krassesten. Seit über dreissig Jahren (also seit 1980) stagnieren dort die unteren und mittleren Einkommen – und sind sogar teilweise kleiner geworden. Die 20 Prozent mit dem geringsten Einkommen verdienen heute weniger als 1973, obwohl die Produktivität und die Arbeitszeit gestiegen ist. Gleichzeitig ist das Einkommen der Topverdiener explodiert: Das Verhältnis zwischen dem Lohn eines CEO und dem eines Angestellten war vor dreissig Jahren 40:1 – heute ist es 300:1. Und, wie spätestens die Finanzkrise gezeigt hat, haben die Löhne kaum etwas mit realer Leistung zu tun. Ganz im Gegenteil!

Während aber in den USA Präsident Obama dem Druck der Republikaner im Budget-Streit nachgegeben und die Steuersenkungen für die Superreichsten noch verlängert hat, haben wir, die Stimmberechtigten im Kanton Zürich, drei Mal in Folge Nein gesagt zu Steuerprivilegien für einige wenige. Wir sagten Nein zur Pauschalsteuer, Nein zur Steuergesetzreform und Nein zum Nachvollzug der Unternehmenssteuerreform II.

Viele Zeitungen beklagen ja nach solchen Abstimmungen – z.B. nach dem Nein zu Managed-Care – dass es einen Reformstau gäbe durch die direkte Demokratie. Das mag sein – vielleicht ist der Reformstau bloss ein negatives Wort für die nötige Besonnenheit, eine Tugend, die unsere Insel halt eben vor einigem Blödsinn auch bewahrt hat.

Balthasar:
Das hat wohl viel Wahres – aber die Rede von der gemütlichen Schweizer Demokratie vernebelt gleichzeitig auch, dass nicht nur jenseits des grossen Teichs sondern auch auf unserer Insel das „Ende der Gemütlichkeit“ längst Tatsache ist. Wir haben keine sanften grünen Hügel für alle mehr auf unserer Insel, nein, in der Mitte türmen sich stattdessen Wolkenkratzer, mit edlen Luxuswohnungen, Marmor, Aussicht für ein paar Wenige – während die meisten am flachen Ufer wohnen, wo der Sturm auch das Wasser hinpeitscht, wo man Angst hat vor der nächsten Flut.

Viele wollen das nicht wahrhaben. Ein Beispiel? Kaspar Villigers Kommentar in der NZZ vom Montag. Er kritisiert Leute wie mich, die auch an der Schweiz ein kaltes und ungerechtes Wirtschaftssystem kritisieren, obwohl wir, Zitat Villiger „eines der reichsten Länder der Welt mit einer der höchsten Beschäftigungen und ausgeglichensten Einkommensverteilungen sind.“ Villiger hat Recht – aber nur zu zwei Dritteln. Die Schweiz ist reich. Die Arbeitslosigkeit ist tief. Aber dieser Reichtum, also die Vermögen, und auch die Einkommen in unserem Land sind immer ungleicher verteilt.

Die Schere zwischen Mittelstand und den Reichsten, zwischen KMU und Grossunternehmen geht auseinander. Die offiziellen Zahlen:

Im Vermögensbereich gehört die Schweiz zur Spitzengruppe der ungleichsten Länder. Das reichsten Prozent der Familien besitzt heute drei Viertel des gesamten Vermögens. Immer stärker entwickelt sich ein veritabler Geldadel.
Bei den Einkommen stiegen im letzten Jahrzehnt nur jene des allerobersten Prozents der absoluten Spitzenverdiener stärker als die Produktivität. Die anderen 99% haben alle weniger verdient als die Produktivitätssteigerung.

Wo aber gingen die Produktivitätsgewinne hin?

Sie flossen in explodierende Unternehmensgewinne. Von unter 40 Milliarden 1990 haben sie sich auf über 230 Milliarden versechsfacht. Sechsmal mehr Gewinne, und gleichzeitig wurden die Unternehmenssteuern mehr als halbiert… Man rechne! Ohne dieses Steuerdumping wären heute Jahr für Jahr fast 30 Milliarden mehr in der Staatskasse. Geld, das wir für unsere Zukunft brauchen! Wir wollen eine Energiewende finanzieren, Arbeitsplätze mit Zukunft schaffen, in Bildung, Forschung und Entwicklung investieren, und die AHV für unsere Kinder sichern!

Gewinne sind eben nicht das gleich bei KMU und bei Grossfirmen. Bei KMUs fliessen sie in die Löhne und in Investitionen. Die Milliardengewinne flossen dagegen in Entschädigungen von CEOs und in Riesenboni. Bei grossen Firmen gilt seit 1980 das Erfolgsrezept der 60er und 70ern nicht mehr: dass die Gewinne von heute die Investitionen von morgen und damit die Arbeitsplätze von übermorgen sind. Nein: die Gewinnquote nimmt zu und die Investitionsquote nimmt ab. Die Differenz fliesst dann in jene Spekulationsblasen die am Anfang unserer Finanzkrise standen.

Hat sich der Herr Glättli im Datum geirrt, fragen Sie sich jetzt vielleicht – hat er den 1. August mit dem 1. Mai verwechselt? Oder hat er die Partei gewechselt?
Nein, meine Damen und Herren. Aber am ersten August, das soll man ja von der Schweiz reden, die man liebt. Bei mir ist das eine Schweiz mit einem starken sozialen Zusammenhalt. Ein Land ohne Burgen für die Herren, dafür mit gesicherten Hügeln. Ein Land, das weiss, dass jede Bürgerin zählt und jeder Bürger, und nicht nur eine Elite. Ein Land, in dem alle eine Chance haben, die sich anstrengen. Ein Land, mit einer guten Volksschule für alle!

Darum rede ich Klartext, weil das, was ich an der Schweiz liebe, schleichend unter die Räder kommt: Das rechte Mass ist bedroht, und der Zusammenhalt in unserem Land – über alle Verschiedenheiten und sogar Sprachgrenzen hinweg, der immer wieder an Erstaugustreden gerühmt wird. Das liegt mir am Herzen, meine Damen und Herren, weil ich weiss, dass wir die grösste Herausforderungen der Zukunft, den Doppel-Ausstieg aus der Atom- und Erdölabhängigkeit, nur mit gemeinsamem Unternehmergeist anpacken können.

Herr Villiger träumt von einer Schweiz der Vergangenheit, die alle Menschen fair am Wohlstand teilhaben liess – und verdrängt, dass wir heute nicht mehr diese Insel der Seligen sind. Ich träume davon, dass unsere Schweiz wieder ein solches Land wird. Mit einem gesunden Leistungsdenken, das die Anstrengung aller fair belohnt! Mit Innovationsgeist, wo man gemeinsam Lösungen sucht, nicht nur Probleme. Aber auch eine Schweiz mit einer gesunden Bescheidenheit und einem wachen Misstrauen gegen den Geldadel.

Es liegt an uns, es liegt an Ihnen, meine Damen und Herren, ob sie die Schweiz, von der wir alle träumen, in der Vergangenheit sehen. Oder ob sie mitarbeiten, damit es sie in der Zukunft wieder gibt!

Min Li:
Am Anfang sagte ich, ich sei keine Patriotin. Nun – vielleicht werden Sie denken, das sei, weil ich “Schweizerin mit Migrationshintergrund” sei, wie das ja neu heisst. Ich glaub das ehrlicherweise nicht – nicht nur weil ich gerne jasse und gerne Fondue esse und eigentlich bemerkenswert verwurzelt bin.

Wo man sich wohlfühlt, hat nicht so viel mit der Herkunft zu tun. Sondern mit einem Dach über den Kopf, netten Menschen und einer schönen Umgebung. Und darum fühlen sich auch viele Leute hier daheim, auch wenn ihre Vorfahren noch nicht auf dem Rütli zugegen waren. Die Schweiz war immer eine Willensnation, mit verschiedenen Kulturen, die sich vielleicht nicht einmal verstehen, aber trotzdem zusammengehören. Und darum muss und soll es auch Platz haben für neue Einwanderer, die hier ihre Heimat finden wollen.

So wie Homo sapiens sapiens einmal aus Afrika sich aufmachte, um die ganze Welt zu erobern, gibt es heute noch Menschen – im historischen Vergleich wohl sehr wenig – die aus den verschiedensten Gründen und den verschiedensten Ländern in die Schweiz kommen, um hier ihr Zuhause zu finden und zu einer gemeinsamen Zukunft beizutragen.

In den Ferien habe ich das Buch „Civilisation“ gelesen, in dem der Historiker Niall Ferguson sich fragt, ob die westliche Zivilisation wohl bald untergeht oder ob sie weiterhin die Welt beherrschen wird. Die Geschichte des Westens ist nicht unproblematisch. Und sie hat ihre ganz dunklen Seiten, wie auch die Geschichte der Schweiz ihre dunklen Seiten hat. Doch in seinen besten Seiten, Aufklärung, Freiheit und Demokratie, ist der Westen ist es ein sehr attraktives Modell. Und die moderne Schweiz, die demokratische Schweiz von 1848 einer seiner ersten Leuchttürme.

Freuen wir uns, dass wir attraktiv sind und dass Menschen hier herkommen wollen und dass sie hier zuhause sein werden. Seien wir froh, dass wir immer noch ein Leuchtturm sind. Das ist ein Privileg, und das ist auch eine Verpflichtung.

Stolz sein auf die Vergangenheit ist einfach – weil dazu haben wir wenig beigetragen. Wir müssen gemeinsam eine Zukunft schaffen, auf die wir alle stolz sein können.

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen einen mutigen und optimistischen ersten August!