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Liebe GRÜNE
Und alle, die’s noch werden wollen!

Erst-August-Reden sind normalerweise ein Gottesdienst. Die Schweiz wird beschworen. Insel der Seligen. Zusammenhalt. Demokratie. Blick auf 1291. Blick aufs Rütli.

Vieles wird ausgeblendet. Nicht nur aus der Gegenwart, sondern auch aus der Vergangenheit. Vieles wird auf eine simple Geschichte reduziert, der Blick nach hinten gerichtet. Herkunft statt Zukunft.

Man sagt mir ja oft nach, ich hätte in meinen Reden einen Hang zum Predigen. Aber ich muss euch sagen, mir fällt der Gottesdienst auf die Schweiz heute ziemlich schwer.

Der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Putins nicht enden wollende zerstörerische Aggression, seine Drohung, den Gashahn zuzudrehen. Und die riesigen Defizite unserer Politik beim Umgang mit der Krise, beim Klimaschutz und beim Schutz der biologischen Vielfalt… Kein Grund zum Feiern.

Ich sehe, wie unser Bundesrat weder durch Mut noch Entschlossenheit von sich reden macht, sondern durch Intrigen und Indiskretionen. Sieben, die sich gegenseitig in den Rücken fallen, zerstritten und orientierungslos. Kein schönes Bild.

Und ich lese in der Zeitung, dass Big Business und Bauernlobby zusammenspannen wollen: Pestizide und Subventionen für die Bauern,Steuerdumping für die internationalen Grosskonzerne. Ein elender Kuhhandel – und eine «Loose-loose»-Situation für die Natur, für die Gesundheit und für die ganz normalen Steuerzahlenden. Gegen jede ökologische Wende. Gegen eine Zukunft mit Zukunft. Keine guten Aussichten.

All das macht mir Sorgen – und die diesjährige 1.-August-Rede zur Zangengeburt, mit der ich mich – ich will es nicht verhehlen – ungewohnt lange abmühte.

Die Lage ist herausfordernd, schwieriger als jemals in den letzten Jahrzehnten.

Aber sie sorgt in einer zentralen Hinsicht für fast schon schmerzhafte Klarheit: Wir müssen unsere Zukunft auf ein fossilfreies Fundament stellen – rasch, entschieden und umfassend.
Aus klima- UND aus sicherheitspolitischen Gründen. Und als POLITISCHE Aufgabe, als DIE politische Aufgabe unserer Generation: Raus aus dem Öl und dem Gas!
Rein in die Freiheitsenergien.

Weil sich ein neues Fundament nicht über Nacht bauen lässt, ist aber ebenso klar: Wir müssen endlich die grassierende Energieverschwendung stoppen. Dann hat es in den Alpenbatterien, in den Stauseen, auch im Januar und Februar noch genügend Wasser.

Gebe ich am heutigen 1. August also einfach den Sparapostel? NEIN, damit würde ich es mir definitiv zu einfach machen; es geht mir auch da NICHT um den moralischen Appell an alle einzelnen – sondern um notwendige, gemeinsame, POLITISCHE Weichenstellungen.

“JA, das gaat, we me nume wot” – Wir können die Weichen intelligent stellen. Intelligenter als heute.

Kalifornien hat’s gezeigt mit innovativen Anreizsystemen für die Strombranche zur Effizienzsteigerung. Resultat: Seit Jahren gedeckelter Energieverbrauch. Japan hat’s gezeigt in der Krisensituation nach Fukushima mit umfassenden Kampagnen aber auch Richtlinien und Vorschriften zur Verbrauchsreduktion.
Resultat: Massive Einsparungen. Ohne Wohlstandseinbussen.

Wir haben politisch in der Schweiz immer wieder über den Ausbau der Energieerzeugung diskutiert. Aber beim Kampf gegen die Energieschwendung sind wir noch auf dem Niveau Ogis Eierkoch-Spartipp. Die Schweiz hat POLITISCH nie breit und ernsthaft versucht, gegen die grassierende Energieverschwendung vorzugehen. Weder mit Anreiz- und Auktionssystemen, noch mit griffigen Regeln, noch einer konzertierten Kampagne, noch mit der systematischen Förderung von Fahrgemeinschaften oder der Reduktion der Höchstgeschwindigkeit, um nur einige Beispiele zu nennen. 

Wenn ich als GRÜNER jeweils das Wort „Sparen“ in den Mund genommen habe in den letzten Wochen, dann hörte ich rasch: Wir wollen nicht zurück in die Steinzeit. Wir wollen nicht verzichten.

Ich frage zurück:

  • Ist es ein unerträglich, wenn Leuchtreklamen nicht mehr 24 Stunden am Tag Strom verbrauchen?
  • Ist es unerträglich, wenn  wir nur bis 21 Uhr Windowshopping betreiben können?
  • Ist es ein unerträglich, wenn die Strassenlampen über Nacht gedimmt werden oder wo das nicht geht, halt jede zweite ausgeschaltet wird?
  • Ist es ein unerträglich, wenn wir im Winter nicht im T-Shirt, sondern im Pullover am Schreibtisch sitzen?
  • Ist es unerträglich, wenn die Erdöl- und Gaskonzerne keine Profite mehr machen und Putin keine Waffen mehr bezahlen kann?

Die Fragen stellen heisst sie beantworten!

Nur mit einem POLITISCH gewolltem, mit POLITISCH umgesetztem Aktionsplan gegen die Energieverschwendung kommen wir auch dann gut über den Winter, wenn uns Putin den Gashahn zudrehen sollte.
Und mit dem Einsatz gegen die Energieverschwendung leisten wir dazu noch einen wesentlichen Beitrag zum Bau des fossilfreien Fundaments, für das wir die POLITISCHEN Weichen ebenfalls hier und heute stellen müssen.

* * *

Ich habe vorhin die Koalition der Lobbyinteressen gegen eine Zukunft mit Zukunft erwähnt.

Stellen wir ihr eine Koalition FÜR eine Zukunft mit Zukunft gegenüber! Die Konzepte für die Weichenstellung, die haben wir GRÜNEN – verhelfen wir ihnen zum POLITISCHEN Durchbruch! Diesen Herbst beginnt das Wahljahr – wir GRÜNEN sind im Aufwind – nutzen wir ihn! Diesen Herbst beginnt die Unterschriftensammlung zur Klimafonds-Initiative für einen sozial gerechten “Green New Deal” – stecken wir all unsere Energie in die POLITISCHE Mobilisierung!

Verkehrsinfrastrukturen, Sozialwerke, Bildung, Landesverteidigung und vieles mehr sind öffentliche Aufgaben. Der Klimaschutz, der Umbau zu einer fossilfreien Gesellschaft muss es endlich werden – DIE öffentliche Aufgabe unserer Generation.

Wir brauchen STRATEGISCHE INVESTITIONEN, in die Energiewende, in die Energieeffizienz und in intelligente Energiespar-Technologien, in den Ausbau der Erneuerbaren, in die Stärkung der Biodiversität, aber auch in die Aus- und Weiterbildung, denn: Die Energiewende ist auch ein Jobmotor – so sehr, dass der Fachkräftemangel schon heute den Ausbau der Solarenergie und den Ersatz fossiler Heizungen behindert.

Ein «Weiter so» dagegen führt in uns in den Abgrund der Klimakatastrophe. Und gefährdet auch unsere Sicherheit und Freiheit. Indem wir Autokraten und Oligarchen finanzieren, deren Herrschaft auf dem Rohstofffluch beruht. Die Koalition kurzfristiger Lobbyinteressen, der sich nun auch der Bauernverband angeschlossen hat, will die politischen Weichen so belassen, wie sie sind – ungebremst auf’s Abstellgleis! Wir GRÜNEN wollen sie umstellen, in und mit einer Koalition für eine Zukunft mit Zukunft. Die kommenden 16 Monate werden entscheidend sein.

Ich habe in dieser Rede das Wort “POLITISCH” ca. 10mal betont. Mit voller Absicht: Der/die Einzelne wird’s nicht richten – aber wir als politisches Gemeinwesen.
POLITIK, das sind nicht „die in Bern oben“. Sondern wir alle, die gemeinsam eine bessere Welt wollen.

Es gibt Momente, da fallen die Entscheidungen.
Schon im Altgriechischen heisst „Krisis“ Entscheidung.
Und wir sind in einer solchen Krise, in einem Moment der Entscheidung. In einem entscheidenden Moment.

Mit euch zusammen wollen wir GRÜNEN die politischen Weichen stellen
indem wir zusammenstehen fürs Klima
zusammenstehen für eine Zukunft mit Zukunft

– und mit eurem, mit unserem grossen Elan wird das auch gelingen – ich danke euch!