Drei Fragen – Drei Antworten

In der Zeitschrift „Neue Wege“ befragte mich Redaktorin Monika Stocker (die frühere grüne Zürcher Stadträtin) 2011 nach meiner Wahl in den Nationalrat.

Quelle: https://dx.doi.org/10.5169/seals-390304

Die Wahlen 2011 haben Aufbrüche gezeigt, haben Enttäuschungen gebracht, haben Blankostellen gesetzt. Am 5. Dezember beginnt die Arbeit. Balthasar Glättli ist neu in den Nationalrat gewählt worden. Er kennt die Basisarbeit, die Arbeit in Gremien, Gewerkschaften, Partei und Verbänden und die parlamentarische Arbeit aus dem Zürcher Gemeinderat. Bern ist wohl anders…

Monika Stocker: Der Start in die Wintersession ist auch der Start aller neu gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Mit welchen Erwartungen und allenfalls Befürchtungen nehmen Sie die Arbeit in Bern auf? Was wollen Sie in dieser ersten Session er fahren, kennenlernen, erreichen?

Balthasar Glättli: Zuerst einmal bin ich mir bewusst: ich komme in eine ganz andere Welt. Im Vergleich zum Nationalrat ist der Gemeinderat ein fast anarchistisches Parlament. Es gibt wenige Einschränkungen der Debatten. Alle Ratsmitglieder können sich zu jedem Geschäft theoretisch sogar zweimal zu Wort melden. Oft beleben Zwischenrufe zusätzlich die Debatte. Zudem gibt es in den Kommissionen nur ein informelles Sitzungsgeheimnis. Die Debatten im Nationalrat dagegen sind viel klarer strukturiert, die Redezeit wird je nach Behandlungskategorie präzise zugeteilt, und die Kommissionssitzungen sind vertraulich. Meine Befürchtung: Ich werde mich hier nicht ganz so leicht umgewöhnen. Umgekehrt ist das ganze informelle Umfeld, die Wandelhalle, der Kontakt mit Medienschaffenden und Lobbyvertreterinnen, in Bern viel präsenter und wichtiger. Den aktiven und selbstbestimmten Umgang damit möchte ich möglichst rasch lernen. Wer diese Kontakte nutzen kann, wird sicher an Sichtbarkeit gewinnen – wer sich von ihnen ausnutzen lässt, verliert dagegen sein Profil. Mein Hauptziel aber wird es sein, erste Beziehungen zu Vertreterinnen anderer Parteien zu knüpfen. Ohne ein solches Netz bleibt man als Grüner bei den üblichen Mehrheitsverhältnissen in vielen Fällen darauf beschränkt, symbolische Forderungen zu stellen. Das ist manchmal durchaus wichtig. Aber ich hoffe doch, in der einen oder anderen Frage auch die Richtung der Entscheide mit beeinflussen zu können.

Monika Stocker: Sie kennen die Arbeit an der Basis gut. Meistens entsteht für die «Zurückgelassenen» das Gefühl, nun, da er oder sie im Parlament ist, sind sie für uns verloren. Wie wollen Sie Brücken schlagen zwischen «innen»: Politkuchen auf nationaler Ebene und «aussen»: Anliegen der Basis, der Vergessenen, derjenigen ohne Lobby?

Balthasar Glättli: Es ist sicher so: Bundesbern dreht sich oft um sich selbst. Das habe ich auch während meines siebenjährigen Engagements als Geschäftsführer von Solidarité sans frontières oft so erlebt. Mein Vorsatz: Ich versuche, offen zu bleiben für die Anregungen, die Anliegen, und vor allem auch für Kritik. So erlebte ich viele Gratulantinnen, die selbst der offiziellen Politik mit Distanz gegenüberstehen. Dennoch verküpften sie mit meiner Wahl grosse Erwartungen – aus meiner Sicht allzu grosse. Wenn ich auf der Strasse angesprochen werde, Unbekannte mir ihre Anliegen mit auf den Weg geben… da weiss ich, ich werde nicht all diesen Hoffnungen gerecht werden können. Darum habe ich in diesen kurzen Gesprächen vor allem einen Wunsch geäussert: dass Kritik und Enttäuschungen, aber auch konkrete Erwartungen an mich, mir möglichst rasch und direkt mitgeteilt werden. Ob dies auch klappt? Ob ich konstruktiv damit umgehen kann? Das wird sich noch weisen. Für mich ist es auch wichtig, weiter an ausserparlamentarischen Aktivitäten teilzunehmen, an Kundgebungen und an Demos. So habe ich eine Woche nach der Wahl in Zürich an einer kleinen aber sehr breiten Demo von Migrantinnen teilgenommen. Es war ein Versuch, Emanzipationskämpfe aus den verschiedensten Regionen zusammenzuführen – für mich war das ein wichtiger Moment, um meiner Umgebung und auch mir selbst zu zeigen, dass ich für diese Art, verdrängte Anliegen in die Öffentlichkeit zu bringen, weiterhin offen bleiben kann. Ganz konkret braucht es für die Verankerung in der Basis aber auch einfach Zeit. Darum will ich die Arbeit im Vorstand der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich und von Solidarité sans frontières, die während des Wahlkampfs ruhte, wieder aufnehmen – auch wenn ich sicher nicht für jede Sitzung Zeit finden werde… Ebenso ist mir das Engagement im kantonalen, im deutsch- und gesamtschweizerischen Vorstand des Mieterverbands wichtig. Die Bodenrente ist heute einer der wesentlichen Umverteilungsfaktoren von unten nach oben. Und je länger je mehr verwandelt sich das Geschäft mit Boden und Immobilien in anonyme Finanztransaktionen, mit wachsenden Renditeerwartungen. Der Bezug zum grundmenschlichen Bedürfnis des Wohnens geht da verloren.

Monika Stocker: Die Fraktionen bilden sich neu, die Kommissionssitze werden neu verteilt. Es gibt geschriebene und ungeschriebene Ge setze, was «die Neuen» sollen und dürfen und was nicht. Wie werden Sie da eingeführt? Mit welchen eigenen Massstäben wollen Sie an die Arbeit gehen?

Balthasar Glättli: Eine offizielle Einführung in die «ungeschriebenen Gesetze» gibt es natürlich nicht. Ich setze hier vorab auf meine eigene Neugierde, aber auch auf eine gewisse Zurückhaltung. Auf stilles Beobachten und informelle Gespräche mit den neuen Kolleginnen. Ich weiss ja, wie lange es gedauert hat, bis ich mein jetziges Netzwerk im Gemeinderat aufgebaut hatte – und wie kostbar und wichtig es ist, auf respektvolle Beziehungen mit Vertreterinnen der eigenen aber auch der anderen Parteien bauen zu können. Ich denke mir, dass die intensive gemeinsame Zeit während der Sessionen das Networking einfacher machen. Natürlich ist dennoch nicht genug Zeit vorhanden, sich mit allen Kolleginnen über alles auszutauschen. Deshalb werde ich rasch herauszufinden versuchen, wer in welchen Zusammenhängen wichtige Rollen hat – ob nun formell oder informell. In der inhaltlichen Arbeit der Fraktion habe ich mir vorgenommen, nicht besserwisserisch aufzutreten; auch dort, wo ich mir bereits eine Meinung gebildet habe. Ich will offen sein für Argumente, die ich noch nicht kenne. Bei all dieser Offenheit wird natürlich der wichtigste Massstab schliesslich doch der sein, mir treu zu bleiben. Jene Werte nicht zu verraten, mit denen ich in den Wahlkampf gezogen bin, jene Haltungen weiterzutragen, die in den vergangenen Jahren mein politisches Engagement leiteten. Mir machen jene Stimmen innerhalb der Grünen Sorge, welche dafür plädieren, nun unser grünes Programm «der Nachfrage anzupassen», also jene Positionen zu übernehmen, welche zur Zeit auf mehr Zuspruch der Wahlenden zählen können.