Mischa Aebi (Sonntagszeitung): Herr Glättli, Sie fordern einen grünen Bundesrat. Lenken Sie damit von der Wahlschlappe Ihrer Partei ab?
Nein. Nach der Korrektur des Bundesamtes für Statistik steht fest, dass wir trotz allem das zweitbeste Wahlresultat unserer Geschichte hatten und mit einem Wähleranteil von 9,8 Prozent de facto noch immer eine Zehnprozent-Partei sind. Die FDP dagegen hat das schlechteste Resultat seit Bestehen der modernen Schweiz und ist sehr deutlich übervertreten.

Warum braucht es einen grünen Bundesrat?
Das Klima gehört in den Bundesrat. Es gibt aber noch ein anderes Argument: In nächster Zeit stehen schwierige Entscheide an, bei welchen Parlament und Bevölkerung überzeugt werden müssen. Da ist es wichtig und richtig, dass möglichst viele politische Kräfte im Bundesrat vertreten sind.

Welche Entscheide meinen Sie?
In der kommenden Legislatur kommt es zu fundamentalen Entscheiden über die Energiewende, die Umsetzung des Klimaschutzgesetzes, die Krankenkassenprämien sowie die Beziehungen zur EU. Dazu kommt, dass die Schweiz ihre Rolle in der Welt neu wird definieren müssen.

Mit dem Angriff auf einen FDP-Bundesratssitz werden Sie so gut wie keine Chancen haben. Warum tun Sie es trotzdem?
Wir kandidieren nicht, weil es einfach ist, sondern weil es gut für die Schweiz wäre.

Das glauben alle Parteien von sich.
Ja, aber wir haben einen Anspruch. Ein Viertel der Bevölkerung ist nicht mehr im Bundesrat vertreten. Das ist eine riesige Zahl. Das heisst, die Zauberformel, das Erfolgsmodell der Schweiz, ist definitiv tot. Denn sie wurde erfunden, um sicherzustellen, dass das Land nicht von einer Elite regiert wird, sondern gemeinsam von allen wichtigen Kräften. Das ist nicht mehr gegeben – und das ist gefährlich.

Die Regel lautet: Die vier grössten Parteien sollen im Bundesrat vertreten sein. Von den vier Bundesratsparteien hat keine ein Interesse, davon abzuweichen. Wie genau wollen sie in diesen Machtblock eindringen? 
Jeder definiert die Zauberformel anders. Fakt ist: Wir müssen genügend Parlamentarierinnen und Parlamentarier von Parteien, die bereits im Bundesrat sind, überzeugen, dass uns ein Sitz zusteht. Wir müssen also das eigentlich Unmögliche möglich machen.

Von wem erhoffen Sie sich Unterstützung?
Wir erhoffen uns von allen Seiten Stimmen, die daran interessiert sind, dass die Schweiz in dieser schwierigen Zeit mit Lösungen vorankommt und nicht durch SVP-FDP-Blockadepolitik im Bundesrat behindert wird. 

Konkret: Welche Partei wird für einen grünen Bundesrat stimmen?
Die SP hat uns letztes Mal unterstützt. Wir haben diesmal auch von den Grünliberalen erste positive Zeichen. Sie müssten ein Interesse haben, dass die grünen Anliegen im Bundesrat vertreten sind. Und selbst die Mitte müsste daran interessiert sein, dass es im Bundesrat keine Blockaden von Rechtsaussen mehr gibt. Am Schluss wählen aber nicht die Fraktionen. Sondern alle Mitglieder der Vereinigten Bundesversammlung in geheimer Wahl.

Warum greifen Sie eigentlich nicht einen Sitz der SP an?
Die SP hat nach Niederlagen in den letzten Jahren dieses Jahr nun einen klaren Sieg verbucht. Sie hat damit von den Stimmberechtigten ein klares Mandat bekommen, die sozialen Anliegen im Bundesrat weiterhin stark zu vertreten. Deshalb haben wir in der Fraktion einstimmig beschlossen, nur einen Sitz der FDP, nicht aber die SP anzugreifen.

Wie hoch schätzen Sie die Chancen ein, dass das Parlament im Dezember einen grünen Bundesrat wählt?
Das ist die falsche Frage. Wir treten nicht an, weil wir uns so und so hohe Chancen ausrechnen, sondern um klar und deutlich zu machen, dass wir einen legitimen Anspruch auf einen Sitz in der Regierung haben. Es ist uns klar, dass wir auf Widerstand stossen werden. Aber es wäre ein falsches Signal, wenn wir jetzt einfach warten. Ein Bundesratssitz fällt niemandem einfach mal in den Schoss.

Das heisst, Sie glauben selber nicht an die Wahl eines grünen Bundesrates im Dezember, aber Sie machen Druck für eine nächste oder übernächste Vakanz. Ist das die Strategie?
Wir zeigen, dass wir bereit sind zu kämpfen. Und wir werden der Vereinigten Bundesversammlung eine überzeugende Bundesratskandidatur präsentieren. Dann werden wir Überzeugungsarbeit leisten und sehen, wie weit wir kommen.

Werden Sie sich als Bundesratskandidat zur Verfügung stellen?
Bis zum 3. November können sich Kandidierende melden. Ich habe schon mehrfach nein gesagt. Und am 10. November wird die Fraktion entscheiden, wen wir der vereinigten Bundesversammlung vorschlagen.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich jemand aus der Partei für diese eher ausichtslose Kandidatur zur Verfügung stellen wird? Wie viele haben schon Interesse angemeldet?
Wir verfügen über profilierte Mitglieder in der Fraktion und in Exekutiven. Selbst wenn es, wie Sie unterstellen, am 13. Dezember 2023 nicht klappen sollte: die zwei Bundesräte der FDP werden nicht bis 2050 im Amt bleiben. Dann würden wir wieder antreten. Ohne die Hürde, jemand Bisheriges verdrängen zu müssen. Die Fraktion wird dann nicht vergessen, wer sich diesmal zur Verfügung gestellt hat.

Sie waren in der Zwickmühle: Hätten die Grünen auf eine Kandidatur verzichtet, wäre der Ärger in der Basis nach den verlorenen Wahlen noch grösser geworden – auch auf Sie als Parteipräsident. Wollen Sie mit dieser Offensivstrategie Ihren Kopf retten? 
Diesen Entscheid hat die Fraktion getroffen, nach reiflicher Diskussion. Ich finde ihn gut: den Mutigen gehört die Zukunft.

Nachfrage: Ist ein neues Grünen-Präsidium damit jetzt vom Tisch?
Eins nach dem anderen. Jetzt stehen die Bundesratswahlen an im Dezember. Und im April 2024 dann die Wahl des grünen Präsidiums.