© Kanton Glarus, Samuel Trümpy Photography, (CC BY) 2.0, via Wikimedia Commons

Unsere Schweiz. Ein Heimatbuch für Weltoffene

  • Herausgegeben von Beat Jans, Guy Krneta und Matthias Zehnder
  • Mit Beiträgen u.a. von Vania Alleva, Martin R. Dean, Daniela Dill, Jacqueline Fehr, Anita Fetz, Balthasar Glättli, Tim Guldimann, Andrea Hämmerle, Franz Hohler, Helmut Hubacher, Knackeboul, Georg Kreis, Ueli Mäder, Kurt Marti, Antoinette Rychner, Ruth Schweikert, Silva Semadeni, Aline Trede, Julia Weber.
  • Erschienen 2019 im Zytglogge-Verlag
  • Unten mein Beitrag im Buch

Freiheit und Demokratie

Jedes Mal, wenn ich nach einem Aufenthalt im Ausland zurück in die Schweiz komme, stelle ich mir die Frage. Die Frage, warum ich mich plötzlich zuhause fühle. Was ist es, das mich heimkommen lässt? Natürlich sind das auch Äusserlichkeiten. Und natürlich sind das die vertrauten Strassen meiner Stadt, und die vertrauten Menschen in meinem Umfeld.

Aber nicht jede Heimkehr ist gleich. Es fühlt sich anders an, je nachdem woher ich zurückkehre. Als ich in den letzten paar Jahren mehrere Male aus der Türkei zurückkam von Solidaritätsbesuchen in den kurdischen Gebieten, da wurde mir ganz konkret bewusst, wie wertvoll die bürgerlichen Freiheiten sind, die wir hier geniessen. Die Freiheit, sich politisch zu betätigen. Die Freiheit von uns allen, die Regierung zu kritisieren. Die Freiheit, mit der Journalist*innen unterschiedliche Meinungen einnehmen können. Die Freiheit, welche die Gewaltenteilung schafft mit einem doch ziemlich gut funktionierenden Rechtsstaat. Weil die Rechtsprechung nicht davon abhängig ist, was den Mächtigen im Land, was einem Präsidenten und seiner Partei passt oder nicht. Und weil Richter*innen, aber auch Lehrer*innen und andere Staatsangestellte, nicht einfach entlassen werden, bloss weil sie sich der politischen Justiz verweigern, bloss weil sie nicht Sprachrohr der Mehrheitspartei sind, bloss weil sie die staatlichen Dienste auch jenen zukommen lassen, die andere Haltungen vertreten – oder weil sie es ich erlauben, eine Sprache zu sprechen, die ihre Sprache ist.

In der Schweiz reden wir oft von Demokratie – und viel weniger von den Grundrechten, die jedem und jeder ihre Freiheiten garantieren. Ich musste nach Südostanatolien reisen, in die kurdischen Gebiete der Türkei, ich musste versuchen, die Kurd*innen zu verstehen, welche mit einer mir zuerst unverständlichen Sympathie von der Schweiz sprachen als Land mit mehreren Sprachen und einer kulturellen Vielfalt – und deren Anerkennung in einem rechtsstaatlichen Rahmen. Erst im Vergleich mit der harten politischen Realität eines mir so fremden Landes erfuhr ich ganz konkret, wie wichtig die Freiheit ist, und wie sie ihre Sprengkraft entwickeln kann in lokalen, rätedemokratischen Zusammenhängen.

Denn diese Kurd*innen, sie leben nicht nur eine Widerständigkeit gegen die zentrale Staatsgewalt, die mich ein wenig an jurassisch-anarchistische Dickköpfigkeit erinnert. Sie versuchen nicht nur, in ihren Dörfern und Städten Selbstverwaltung zu organisieren, quer vorbei an den zentral-staatlichen Kompetenzen, wie dies die Anarchisten im Jura schon vor über einem Jahrhundert versuchten. Nein. Sie sind gleichzeitig daran, eine von der Herrschaft der alten Männer geprägte dörfliche Stammesgesellschaft zu transformieren, indem sie Rechte und Pflichten gleich verteilen zwischen Frauen und Männern. Konsequent jeden Vorsitz als Doppelspitze ausgestalten. Und – völlig fremd für viele der dörflich geprägten Kurd*innen – auch die Rechte hochhalten, anders zu leben und zu lieben. Obwohl sie da auch intern durchaus auf Widerstände stossen.

Die kurdische Bewegung wird inspiriert nicht zuletzt vom US-amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin, der für seine Vision eines ökologischen und gleichberechtigten Kommunalismus – wer hätte das gedacht – auch die Schweizer Landsgemeinden mit als Vorbild nennt. Obwohl Bookchin dabei etwas kritische Distanz vermissen lässt: in Glarus zeigte sich gerade die Landsgemeinde ja in vielen Fragen gar progressiver als die Stimmberechtigten der Nachbarkantone an der Urne.

So kommen wir nun auf der Gedankenreise nach Diyarbakır und Vermont zurück zur Heimat, in der ich mich zuhause fühle. Diese Gesellschaft, die mich heimkommen lässt, ist nicht nur eine gebaute, eine vorhandene, sondern immer auch eine geträumte.

Ich träume von einer Gesellschaft, welche eine Demokratie von unten noch stärker lebt. Von einer Gesellschaft, die ihren Wohlstand nicht alleine misst am Übermass des Konsums und der Verschwendung – und die darum nicht das individuelle korrekte Konsumverhalten als höchste Form der politischen Einflussnahme wertet. Sondern danach trachtet, Selbstverantwortung zu leben gemeinsam in Genossenschaften, in Quartieren und lokalen Lebenszusammenhängen und Freiheit so mit Solidarität verbindet. Eine Schweiz, die Föderalismus im Kleinen und Kleinsten nicht als Einladung zur Kleinkrämerei und Kleingeisterei versteht. Sondern als Verpflichtung, die dadurch gewonnene Souveränität, die dadurch gewonnene Freiheit tatsächlich – im Kant’schen Sinne – so zu gebrauchen, dass ihre Prinzipien dem Anspruch Genüge tun, für alle gelten zu können.

Eine Schweiz also, deren Bewohner*innen tatsächlich wissen, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen – wie es in unserer Verfassung so treffend heisst. Wenn wir als Schwache nicht nur die sozial Benachteiligten verstehen, sondern all jene, die als Minderheit den Entscheiden einer Mehrheit unterworfen sind, dann erhalten auch die Grundrechte in unserer Demokratie das notwendige Gewicht. Wir haben die notwendige Freiheit dazu. Wir müssen sie nur noch gebrauchen.