Buchbesprechung von William Gibsons “Neuromancer Trilogie”

Anfang 90er Jahre besorgte ich nicht nur die Website der damaligen Jugendbeilage des Tages-Anzeiger (ERNST), sondern schrieb auch gelegentlich im ERNST. Am 18.9.1996 erschien meine untenstehende Kürzestbesprechung von William Gibsons Neuromancer-Trilogie, die damals neu übersetzt als mächtiger Band bei Zweitausendundeins herausgegeben wurde. Die Besprechung hatte den Titel “Hier gibt es kein Dort”.

Sie gehören schon lange zu den Klassikern: Jetzt sind die drei Bände von William Gibsons “Neuromancer-Trilogie” für Liebhaber endlich neu übersetzt worden und als gebundene Bibel erhältlich.

Die Welt ist eine Prothese, ein Grossstadtdschungel mit Schlupflöchern für die kaputten Hauptdarsteller. Zusammengeflickte Personen, die nach irgendwelchen Drogen lechzen und die vor allem süchtig sind nach dem, was seit einiger Zeit in aller Leute Mund ist: dem ersehnten Trip in den Cyberspace.

Konsolenjunkies, die ihre Hirnströme direkt mit dem universellen Datenfluss kurzschliessen. Übermächtige künstliche Intelligenzen, die Menschen auf die Suche nach ihrem eigenen Sinn schicken. Datenpiraten, die sich durch die schützenden Wände riesiger Datenspeicher hacken. Ein untoter Superreicher, dessen Körper in Nährlösung liegt, der aber dank seiner finanziellen Allmacht überall in beliebiger Gestalt erscheinen kann … Die Welt von Neuromancer, Biochips und Mona Lisa Overdrive ist voller Silikonschrott und roher Gewalt. Und dabei hatte Science-fiction-Autor William Gibson von Computern kaum eine Ahnung, als er 1981 den Text von «Neuromancer» in die Tasten seiner kleinen Reiseschreibmaschine, einer Hermes 2000, hackte. «Da gibt’s kein Dort. So erklärt man Kindern den Cyberspace», steht in «Mona Lisa Over-drive», einem Teil aus der Trilogie. Keine technische Erklärung für ein Wort, das heute dutzendfach in jedem Heftchen anzutreffen ist.

Eine moderne Odyssee

Die Neuromancer-Trilogie ist denn auch eher mit einer Odyssee zu vergleichen. Bloss geht es dem Cyberspace-Cowboy Case und allen anderen nicht darum, irgendwohin heimzukehren, sondern wieder den unbeschränkten Zugang zur einzigen Welt zu finden, in der sie sich unendlich verlieren können. Wer genug Ausdauer hat, kann die drei Bände in einem Zug verschlingen und wird am Schluss ein flimmerndes Gewirr in Erinnerung haben, spannend und beklemmend. Einzelne Szenen bleiben hängen, die gleichen Einstellungen kommen wieder. Vergleichbar mit drei Tage MTV-Reinziehen, aber aus dem Innern der Kiste durch Hunderttausende von Bildschirmen nach aussen gesehen.

Wer sein Hirn mit diesem Buch kurzschliesst, erlebt einen sinnlos schönen Trip.

William Gibson: «Die Neuromancer-Trilogie», Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1996, 62 Franken.