«Es wäre ja auch weniger lustig»
Gerhard Pfister und Balthasar Glättli hoffen heute auf ihre Wiederwahl – weil in Bern wichtige politische Projekte anstehen. Aber nicht nur deswegen.
Gerhard Pfister: Unabhängig davon, ob wir beide heute wieder gewählt werden oder nicht: Wo sehen Sie die prioritären Aufgaben des neuen Parlaments, welche Ziele sollte sich der Bundesrat setzen? Und wie halten Sie es mit der Frage, ob der SVP ein zweiter Bundesratssitz zusteht oder nicht, wenn sie wiederum stärkste Partei werden sollte?
Balthasar Glättli: Zu den grössten Herausforderungen der kommenden Legislatur fürs Parlament gehören unfertige Geschäfte: die Beziehung zu Europa, der Kampf gegen den Klimawandel mit Ausstieg aus den AKW, die Zukunft der Altersvorsorge. Beim ersten Punkt ist ebenso der Bundesrat gefordert, den Ball endlich auch formell dem Parlament zuzuspielen. Zu den Zielen des Bundesrats müsste es zudem gehören, schleichende Herausforderungen anzupacken. Was bedeuten die Digitalisierung, die omnipräsente Informationsgesellschaft, Big Data, das Internet der Dinge – für unsere Privatsphäre? Für unsere Wirtschaft? Für die Zukunft der Arbeit? Für die Rolle der Schweiz in der Welt? Da fehlt mir eine gehaltreiche politische Debatte.
Gerhard Pfister: Erledigen wir doch schnell noch das Konversationsthema Nummer 1 an sämtlichen Lunchs und Empfängen bis zum 9. Dezember: Da hoffe ich auf eine Rückkehr zur arithmetischen Konkordanz. Die meisten von Ihnen genannten Themen halte ich ebenfalls für wichtige Projekte der 50. Legislatur. Insbesondere die Europafrage beziehungsweise die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative ist dringend. Hier zeigt sich die ganze Schwäche des gegenwärtigen Bundesrats: Er drückt sich um eine Position vor den Wahlen, obwohl er ja gar nicht zur Wahl steht und keine Angst haben müsste.
Balthasar Glättli: Wir Grünen halten wenig davon, Politik mit dem Rechenschieber zu machen. Es braucht gemeinsame Grundwerte. Eine Partei, welche die Schweiz aus der Wertegemeinschaft der Menschenrechte herausmanövrieren will, hat hier ein grundlegendes Defizit und ist für mich unwählbar. Und selbst wenn man rechnet: Da kann man angesichts der veränderten Parteienlandschaft auch in Blöcken denken. Dann führt die Verteilung gemäss den Wähleranteilen zwischen Rechts, Links-Grün und Mitte zur derzeitigen Formel 3-2-2.
Gerhard Pfister: Sorry, aber immer wenn mir Linke mit «gemeinsamen Grundwerten» kommen, werde ich skeptisch. Geht es nicht einfach um Machterhalt? Und dienen die Grünen da nicht einfach der SP zu? Wir haben Konsens bezüglich der wichtigen Themen, aber Dissens bei der Frage, wie man diese angehen soll. So steht die Linke nach wie vor für einen EU-Beitritt ein, und sie belastet die Wirtschaft weiter mit regulatorischem Übereifer, Etatismus, Abgabenerhöhungen. Genau das Gegenteil strebe ich an. Auch bei der Energiewende muss der Nationalrat mindestens die nötigen Korrekturen und den realistischen Weg des Ständerats übernehmen.
Balthasar Glättli: Tatsächlich dienen die Grünen oft der SP zu – so zum Beispiel mit unseren Listenverbindungen heute bei den Wahlen. Bei den Bundesratswahlen spielen inhaltliche Gründe. Mit SVP statt Eveline Widmer-Schlumpf würde eine grüne Energiepolitik im Bundesrat massiv geschwächt. Zur EU: Die SVP will ja eine Umsetzung von Artikel 121a BV (Masseneinwanderung), welche die Personenfreizügigkeit und damit die Bilateralen killt. Paradoxerweise ist das die einzige Konstellation, in der in den nächsten zehn Jahren ein EU-Beitritt realpolitisch auf den Tisch kommen könnte. Alles andere ist SVP-Getöse. Zu Regulierung und Etatismus: Wir Grünen verlangen nicht mehr, sondern klügere Regulierung. Und mehr Markt mit realen Preisen. Müssten die AKW ihr GAU-Risiko am Markt versichern, würden sie morgen abgestellt!
Gerhard Pfister: Die Frage ist nicht, was die SVP will, sondern was der Volksentscheid will. Die CVP hat dazu von Anfang an eine Schutzklausel vorgeschlagen, die einerseits den Volkswillen umsetzt und andererseits den Bilateralismus mit der EU nicht gefährdet. Der Bundesrat muss es noch lernen, die FDP leider auch. Die Wirtschaft hat es schon kapiert, aber noch nicht geschafft, es Philipp Müller beizubringen, der seltsame Kapriolen schlägt: Er will mit der SP eine rigide Umsetzung machen lassen, die die SP dann per Referendum bekämpfen soll. Haben Sie Müller verstanden? Muss er vor Bundesrat Burkhalter kuschen? Hier werden Mehrheiten bei jedem Wahlausgang schwierig zu finden sein. Aber gerade das Finden von Mehrheiten für das als richtig Erachtete ist ja eine der schönsten Parlamentarierpflichten. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir beide wieder dabei sein können – ohne mit Ihnen streiten zu können, wäre es ja auch etwas weniger lustig.
Balthasar Glättli: Müllers Salto kann er nüchtern selbst nicht erklären. Allerdings haben bei der Umsetzung der Initiative alle Bundesratsparteien Kapriolen geschlagen, auch die CVP. Bis Juni 2014 waren alle für eine möglichst harte Umsetzung. Dann folgte bei allen ausser der SVP eine Annäherung an jene Position, welche die Grünen gleich nach der Abstimmung eingenommen hatten: nichtdiskriminierende Umsetzung. Eine Schutzklausel ist nur realistisch, wenn wir griffige innere Massnahmen ergreifen, damit sie nicht zum Dauerzustand wird. Der Bedarf an ausländischen Arbeitskräften muss sinken. Mit besserer Integration der älteren Arbeitnehmer, mit Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Arbeit für Asylsuchende und Stopp des Steuerdumpings für ausländische Firmen. Das ist Stoff für Zoff – oder fürs Ringen um Kompromisse. Hoffentlich auch mit Ihnen!
Quelle: NZZ am Sonntag, 18.10.2015