Grundrechte in Zeiten von Corona
Die Covid-19-Massnahmen verdienen einen kritischen Blick aus Grundrechtssicht. Aber nicht alle, die mit den Grundrechten argumentieren, haben das Prinzip der Verhältnismässigkeit begriffen. Verhältnismässigkeit bedeutet: Grundrechtseingriffe sind nur erlaubt, wenn sie nötig sind. Mit dem Argument der Gleichbehandlung Einschränkungen zu verfügen für geimpfte, getestete oder genesene Personen, die es aus epidemiologischer Sicht nicht braucht, ist falsch. Dass geimpfte Personen nicht länger in Quarantäne müssen, ist das keine willkürliche Bevorzugung! Im Gegenteil: es beschränkt die Freiheitsberaubung verhältnismässig auf die Ungeimpften, wo sie nötig bleibt.
Die Covid-Referendumskräfte kritisieren dennoch «eine Zweiklassengesellschaft, durch Impfprivilegien und durch das Covid-Zertifikat (Art. 3a Geimpfte Personen und Art. 6a Impf-, Test- und Genesungsnachweise)» und sehen eine «Impfnötigung, durch bereits existierende und weitere angekündigte Zutrittsbeschränkungen ohne Covid-Zertifikat in allen Bereichen des Lebens (Art. 6a Impf-, Test- und Genesungsnachweise)»: Tatsächlich ist die Impfung nach Ansicht der GRÜNEN das zentrale Instrument, um eine erneute Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Das GGG-Zertifikat ist faktisch eine Alternative zu weitergehenden und weniger differenzierten, weniger verhältnismässigen Massnahmen: erneuten Shutdown oder allgemeine Veranstaltungsverbote. Allerdings soll wo möglich eine Ungleichbehandlung von geimpften und ungeimpften Personen verhindert werden. Darum haben wir GRÜNE uns stets dafür eingesetzt, dass Corona-Tests generell gratis bleiben. Diese Woche sind die meisten anderen Parteien gekippt – unsere Forderung hat Rückenwind. Kostenlose Tests sind auch aus Public Health Perspektive sinnvoll: sie schützen ja nicht die Getesteten, sondern ihre Umgebung, wie zum Beispiel Kinder bis zwölf, für die es bisher keine Impfung gibt.
Die Referendumsführer behaupten zudem, das Gesetz bringe «eine Willkür-Politik, durch Vollmachten für den Bundesrat ohne Kontrollaufsicht (Art. 1a Kriterien und Richtwerte)». Fakt ist das Gegenteil: auch dank uns GRÜNEN präzisiert das COVID-Gesetz heute die Befugnisse des Bundesrates und des Parlaments zur Bewältigung der Pandemie. Ohne Covid-19-Gesetz könnte der Bundesrat – auf Basis des Epidemiengesetzes – mittels zeitlich befristeter Verordnungen ohne Mitsprache des Parlaments durchregieren. Das Gesetz ist also ein demokratiepolitischer Fortschritt, welches die Vollmachten des Bundesrates begrenzt!
Die massive Einschränkung der Grundrechte in den letzten Monaten darf uns nicht abstumpfen. Aber die Abschaffung aller Massnahmen ist nicht die Antwort. Wir brauchen Solidarität und Verhältnismässigkeit statt Sozialdarwinismus. Die Pflegenden in den Spitälern und Menschen, die auf «normale» Operationen angewiesen sind, danken dafür ebenso wie jene Branchen, die auf eine weitere Ausdehnung der wirtschaftlichen Hilfen zwingend angewiesen bleiben.
Schutzmechanismus für direkte Demokratie verhindert ein rasches neues Gesetz mit den unbestrittenen Teilen
Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Behauptung der Referendumsführenden, unbestrittene Elemente der aktuellen Referendumsabstimmung könne das Parlament ja dann leicht umgehend wieder beschliessen. Z.b. das Covid-Zertifikat für Auslandsreisen. Oder wirtschaftliche Unterstützungsmassnahmen wie den Schutzschirm für die Veranstaltungs- und Kulturbranche. Dem ist nicht so. Und zwar aus wohlüberlegten Gründen. Unser Recht schützt die direkte Demokratie, welche ja bei dringlichen Gesetzen strapaziert wird, durch eine besondere Bestimmung. Dringliche Gesetze treten ja bereits in Kraft, bevor die Referendumsfrist abgelaufen ist. Darum ist es umgekehrt dem Parlament verboten, abgelehnte dringliche Gesetze oder Elemente davon erneut durch ein dringliches Verfahren zu beschliessen. Sonst könnte ja theoretisch das Parlament, auch nach einem Volks-NEIN zu einem dringlichen Gesetz, dieses permanent mit einem neuen dringlichen Gesetz wieder in Kraft setzen. Die Abstimmung wäre dann wirkungslos. Die Konsequenz dieses Schutzmechanismus für die direkte Demokratie: Wenn das COVID-19-Gesetz am 28. November abgelehnt würde, dann bräuchte es auch für die Wiedereinführung von Elementen, die von niemandem bestritten sind, einen ordentlichen Gesetzgebungsprozess mit Abwarten der Referendumsfrist. Das dauert mehrere Monate.
Balthasar Glättli, Nationalrat GRÜNE
Dieser Text erschien (ohne den letzten Abschnitt) erstmals in der Wochenzeitung P.S. am 17. September 2021 als „Grüne Gedanken zur Woche“